Zu einer Zeit, als die Menschen noch | nicht alles wußten und zudem
auch gar ' nicht wußten, daß sie nicht alles wußten, als sie noch nicht
jede Anhöhe erklommen, nicht die Tiefen aller Meere vermessen hatten, da
gab es mitten in einem uralten Tannenwald eine einsame Bergkuppe, die auf
keiner der Landkarten jener Zeit eingezeichnet stand und von der niemand
auch nur eine Ahnung hatte.
Es war die Bergkuppe der Schlammvulkane. Aus schmalen Schloten, aus
runden, tischhohen Kratern, aus niedrigen, breiten Pfannen brodelte und
zischte kalter, eisengrauer Schlamm aus dem Erdinnern hervor, blies gluckernde
Blasen auf, spritzte hoch, erlosch dann wieder und blubberte aufs neue
los, von Giftgasen in ständiger Unruhe gehalten.
Bei jedem Überschäumen setzte sich Schlamm an den Rändern der kleinen
Vulkane an, erhärtete zu grauem Ton und ließ die Kraterwände unmerklich
anwachsen. Zugleich aber hob sich durch das ständige Überfließen auch der
Grund, auf dem sie standen. So kam es, daß sie zwar wuchsen, trotzdem aber
kaum höher wurden, als sie schon waren, weil sie sich mitsamt ihrem Trägerberg
langsam und stetig in die Höhe arbeiteten.
Sie glichen einem Wald von ungleichmäßig hohen Kerzenstümpfen, an denen
graues Wachs heruntertropft.
Am Waldrand, einen Steinwurf von den kleinen Schlammvulkanen entfernt,
stand eine bemooste, unkrautumwucherte Blockhütte. Zwischen die roh gezimmerten
Balken der Wände waren Moospolster gestopft, um das Innere der Hütte gegen
Wind und Unwetter abzudichten. Tag und Nacht kroch ein dünner, blauer Rauchfaden
zwischen den Dachschindeln hervor, wie man es zuweilen auch heute noch
bei alten Bauernhäusern oder Sennhütten sieht.
In der Blockhütte schwelte ununterbrochen ein Vulkan, der durch regelmäßige
Beigabe von geheimnisvollen Krautern und rotem Stein zu einer glutheißen
Feuerstelle geworden war.
Wenn auch ein gut gangbarer Pfad aus flachen Steinen zwischen den Grasnarben
und den tiefen Schlammfeldern vom Wald bis zur Eingangstür der Hütte führte,
so hatte sich seit Menschengedenken doch noch nie ein Wanderer, ein Holzfäller
oder Jäger bis zur Kuppe der Schlammvulkane verirrt.
In der Blockhütte hausten seit undenklichen Zeiten zwei Männer. Wann
sie zueinander gefunden hatten und aus welchem Grunde, das wußte keiner
von ihnen mehr zu sagen. Sie dachten auch nie darüber nach, ihnen genügte
das Bewußtsein, daß sie beide zusammengehörten. In der ganzen Welt gab
es niemanden, der sich darüber Gedanken gemacht hätte, aus dem einfachen
Grunde, weil man weder von den Schlammvulkanen noch von der Hütte oder
ihren Bewohnern etwas wußte.
Der eine von ihnen stieg hin und wieder zu der Kleinen Stadt hinab,
die am Fuße der Berge lag, um auf Jahrmärkten zu den Klängen seiner Drehorgel
den Leuten etwas vorzusingen. Man lauschte ihm gern, man warf eine Münze
in seinen Hut, ging weiter und vergaß ihn.
Woher er kam und wohin er ging, danach fragte niemand.
Sie kannten und mochten ihn als Fr idolin, den Sänger, und das genügte
ihnen.
Fridolins Hausgenosse war eine ungewöhnliche Erscheinung.
Klein, rundbäuchig, mit breiten Schultern und riesigen Fäusten ausgestattet,
rannte und kugelte er mit der Behendigkeit einer Springmaus über die Heide,
zur Hütte hinein, wieder heraus, sprang über die flachen Steine, rutschte
über den eisgrauen Schlamm, fiel, besudelte sich über und über, arbeitete
sich keuchend hoch und trudelte weiter, bis er auf seinen kurzen Säbelbeinchen
vor den Schlammvulkanen stand, hineinguckte wie ein Schuljunge in Mutters
Kochtöpfe, von einem zum
anderen rannte und murmelnd mit einem langen Stecken in den Kratern
rührte.
Es war der Gnom E l m o r c k, der Herr des kalten Schlammes.
Irgendwann war er im Inneren der Erde, vielleicht aus Lava und Stein,
geboren worden. Trolle und Kobolde, Elfen und Feuergeister hatten ihm bei
seinen ersten taumelnden Schritten durch Gänge und Ritzen, über Wasseradern
und Kohlenlager zugesehen. Kaum aber trugen ihn seine krummen Beinchen
sicherer über die unterirdischen Halden, kaum konnte er mit seinen blaßvioletten,
großen Augen die Baumwurzeln von steifgefrorenen Schlangen und Würmern
unterscheiden, als er sich auch schon als Gesetzgeber und König aller Unterirdischen
aufspielen wollte. Er redete viel und Übles, er verlangte von allen, daß
sie sich ihm unterwarfen, ihm dienten. Dabei eignete er sich dafür wenig
und forderte dennoch alles.
Bis eines dunklen Tages die Unterirdischen seine Dummheit und Eitelkeit
satt bekamen. Sie sammelten alles, was an Bosheit und üblen Reden aus seinem
Mund gekommen war, rührten es zu Schlamm und katapultierten es mitsamt
dem eingebildeten Gnom aus ihrer Welt hinaus, an die Oberfläche. Mochten
die Menschen sehen, wie sie mit ihm fertig wurden.
So also waren vor Urzeiten die Schlammvulkane entstanden, und so war
der Gnom Elmorck auf die Welt gekommen.
Es scherte Elmorck wenig, daß er hinausgeworfen worden war. Mit seinen
großen, blaßvioletten Augen schaute er neugierig umher, trudelte geschäftig
über den Berg, stand lachend zwischen seinen kleinen Vulkanen. Lachend
stieß er ihnen den Stecken in die Eingeweide und rührte ihr Inneres auf,
lachend ließ er sich von ihnen anspukken, übergießen, besprühen.
Es störte ihn auch nicht im geringsten, wenn ein Vogel sich verirrte
und von den ausströmenden Gasen vergiftet, laut klagend im kalten Schlamm
versank.
Es rührte ihn nicht, wenn alles Gras, das rings um die Anhöhe aufkeimen
wollte, von den eisgrauen Massen bedeckt wurde.
Sein ganzes Streben ging dahin, den Schlamm durch fortwährendes Rühren
am Brodeln zu halten. Wozu er das tat, wußte er nicht. Er hatte nur ein
dunkles Gefühl, es könne ihm einmal nützlich sein.
2. KAPITEL Von einem Jungen namens Geini
Unterhalb der Kuppe der Schlammvulkane lag in einem breiten Tal die
Kleine Stadt. Darin hatte sich nie etwas Beson-1 deres zugetragen, nie
war dort etwas Bemerkenswertes geschehen. Ruhig gingen die Bewohner ihren
Beschäftigungen nach. Der Fluß, der an der Kleinen Stadt vorbeifloß, hatte
zwar seinen Ursprung in der Quelle, die neben der Blockhütte Fridolins
und Elmorcks entsprang, aber das wußte keiner, man fragte auch nicht danach.
Man genoß nur das ungewöhnlich kühle und klare Wasser und freute sich über
den großen Fischreichtum.
In dieser Stadt gab es natürlich, wie überall, auch sehr viele Kinder.
Drei davon spielen in unserer Geschichte eine besondere Rolle; es waren
zwei Jungen und ein Mädchen.
Einer der Jungen hieß Geini.
Er gehörte einem Volk an, das keinen Unterschied kannte zwischen der
Natur und der übrigen Welt. Für diese Leute konnte ein Wald dasselbe bedeuten
wie für unsereins das schönste Haus, die Sternenpracht einer linden Sommernacht
war ihnen ebensoviel wert wie anderen ein herrlicher Prunksaal, und einen
wolkenverhangenen, regnerischen Himmel nahmen sie als Gelegenheit, wieder
einmal mühelos sauber gewaschen zu werden und nebenbei auf freundlichere
Tage zu hoffen.
Im Laufe der Jahrtausende entstehen Völker, verändern sich, entwickeln
sich im Guten oder Schlimmen, sie führen Kriege oder schaffen Bauten und
Kunstwerke, verschwinden dann langsam wieder.
Das Volk, dem Geini angehörte, war anders.
Mitten hindurch floß die Zeit und änderte es nicht. Jahrtausendelang
blieb es, was es von Beginn an gewesen war.
Was die Leute sich erdachten, das gab es auch, was sie sich wünschten,
konnten sie auch tun. Was sie träumten, das geschah. Für sie gab es nichts
Nahes, nichts Entferntes. Sie standen immer mitten im Raum und mitten in
der Zeit.
Was sie sahen, das konnten sie nicht in Worten ausdrücken, sie konnten
es aber singen und tanzen. Alles Natürliche war ihnen so nahe wie ihre
eigene Haut. Jeden Schmerz ertrugen sie, als gehörte er zu ihnen. Nie klagten
sie über Hunger oder Kälte.
Das Feuer war ihnen heilig, sie schliefen an die Erde geschmiegt, Wasser
bedeutete für sie Leben.
Über ihre Art zu leben, sprachen sie nie. Auch nicht an den langen
Abenden, wenn sie rings um ihre schwelenden Feuer saßen.
Sie lebten in Gruppen, ertrugen ruhig alle Not. Hatten sie aber einmal
Überfluß, so berauschten sie sich daran mit viel Feuer, mit von Fett triefenden
Pfannen, mit Strömen von Wein, mit lautem Gesang und wilden Tänzen.
Die Gesetze, die die übrige Welt ihnen auferlegte, mißachteten sie.
Sie hatten ein Geheimnis, das sie selber nur ahnten, und sie achteten nichts
anderes als das Schweigen um dies Geheimnis, in dessen Mitte sie lebten
wie in einer Kugel.
Es war noch gar nicht lange her, daß Geinis Familie mit ihrem gesamten
Hab und Gut von Ort zu Ort gezogen war. An Regen und Sonnenglut, an Hunger
wie an Überfluß gewöhnt und mit allem zufrieden, fuhren sie in bunt bemalten
Wohnwagen durch das Land, ziellos, dankbar für jeden guten Platz an
irgendeinem Flußufer, den sie abends nach langen Tagesreisen als Raststätte
wählten.
Das von Wetter und Jahren zermürbte, schwarze Stangenzelt bot genügend
Raum für die ganze Familie, vor allem, weil die größeren Söhne unter freiem
Himmel schliefen. Im Zelt lagen die Frauen und die kleineren Kinder und
sahen bis zum Einschlafen dem Vater zu, der mit den anderen Männern der
Sippe noch lange draußen saß und das Feuer schürte.
Manchmal hob sich auch die hohe Gestalt der Großmutter als schwarzer
Umriß vor dem helleren Himmel ab, wenn sie zwischen den Zelten umherging,
bis sich vor dem schmalen Spalt des Zelteingangs im Laufe der vergehenden
Abendstunden die Sternbilder verschoben und der Mond aufkam, der, wie es
Geini und seinen zahlreichen Geschwistern zuweilen schien, sich mit der
Vertrautheit einer schnurrenden Hauskatze auf Groß-mutters Schulter niederließ,
wenn sie mit leiser Stimme eindringlich alte Worte ihrer Sprache zum Himmel
hin raunte.
Ihre Kleidung sah aus wie die übliche, die alle Frauen ihres Stammes
trugen. Dennoch lag um die Großmutter immer etwas wie das Ahnen einer sehr
fernen Vergangenheit, endlose Wege und Mühen, aber auch das Wissen um ein
Geheimnis und um eine Kraft sah man in ihren Augen. Sie war nicht einfach
irgendeine alte Frau ihrer Sippe.
Sie war wie das Bild aller Frauen aus alten Völkern, die heute noch
in verschiedenen Teilen der Welt leben.
Ihre Hände waren rissig wie die Rinden uralter Bäume, braun und hart.
Man empfand ihre Berührung wie ein Schaben. Welche Heilkraft in ihnen lag,
davon wußten jene zu erzählen, denen die alte P i p a R u p a diese vertrockneten
Hände auf schmerzende Stellen gelegt und Linderung gebracht hatte.
Und dann geschah das Unvorstellbare :
Obwohl das freie Leben, die Luft, der nächtliche Himmel, das tägliche
Fahren und das Rauschen immer anderer Flüsse zu dieser Familie gehörten
wie ihr Eigenstes, ließen sie sich eines Tages von wortgewandten Stadtvätern
überreden, das unstete Wanderdasein aufzugeben und eine schöne, geräumige
Wohnung in einem neuen Mietshaus am Flußufer in der Kleinen Stadt zu beziehen.
3. KAPITEL Von Herrn und Frau Fanglinger und ihrem Sohn
Über Geinis zu ebener Erde gelegenen Wohnung im ersten Stock wohnte
Gauni mit seinen Eltern. Gauni, der zweite Junge, von dem in dieser Geschichte
die Rede sein soll. Gauni sah aus wie alle anderen Jungen der Kleinen Stadt
und stand genau in Geinis Alter. Bevor er mit seinen Eltern in das neue
Wohnhaus am Flußufer gezogen war, hatten sie in einem kleinen Einfamilienhaus
gewohnt, das ihnen allerdings im Laufe der Zeit zu eng geworden war.
Gaunis Eltern genossen in den Kreisen der Diebe aller Art den guten
Ruf, die Könige sämtlicher Taschendiebe zu sein. Es gab keine Hosentasche,
die sie nicht im Handumdrehen hätten leeren können, es gab keine Taschenuhr,
die nicht nach einer kurzen Begegnung mit dem Besitzer in ihren eigenen
Taschen weitertickte. Wo sie vorüberkamen, blieb keine Brieftasche bei
ihrem rechtmäßigen Herrn, kein goldener Ring an den Fingern der Damen.
In der Pferdebahn (der Vorläuferin unserer Straßenbahn), im Gasthaus, im
Theater, auf der belebtesten wie auf der einsamsten Straße fanden sie Gelegenheit,
ihren Beruf auszuüben.
Wie es sich zutrug, als Herr Fanglinger (Gaunis nachmaliger Vater)
seine Frau (die später Gaunis Mutter werden sollte), kennenlernte, gehört
zwar nicht unmittelbar zu dieser Geschichte, ist aber eine so unterhaltsame
Begebenheit, daß sie hier, sozusagen in Klammern, auch berichtet werden
soll.
Herr Fanglinger lebte als Junggeselle und pflegte, um sich nicht zu
Tode zu langweilen, hin und wieder Selbstgespräche zu führen. So geschah
es, daß er sich zum Beispiel ermahnte: Mein Lieber, sagte er laut zu sich,
da du Junggeselle bist und keinen hast, der dir die Kleider in Ordnung
halten könnte, mußt du selbst nach dem Wichtigsten daran sehen, nämlich
nach den Taschen. Denn Taschen müssen erstens sehr gut verschließbar sein
(du weißt schon, weshalb), was man mittels Haken, Reißverschlüssen und
geschickt angebrachten doppelten Knopfreihen erreicht. Zweitens dürfen
Taschen nie zerrissen sein, weil sonst sehr leicht alles wieder herausfiele,
was man mit Schlauheit, Fingerfertigkeit und Gefahr auf seinen Beutezügen
ergattert hat. Also wählst du, nachdem deine Taschen alle in Ordnung sind,
heute wieder einmal die längste und zugleich belebteste Strecke der Pferdebahn.
Da steigen dauernd neue Fahrgäste hinzu, alle mit (hoffentlich!) noch unangetasteten
Mantel- und Hosentaschen, und für beinahe zwei Stunden Fahrt mußt du nur
eine einzige Fahrkarte lösen.
Sparsam war Herr Fanglinger auch, und das ist ein schöner Charakterzug.
Also stand er mit freundlichem Gesicht in der Pferdebahn. Er hatte
einer älteren Dame zu einem Platz verholten, er hatte einen invaliden Herrn
beim Einsteigen gestützt und ihn zu einem Sitz geleitet. Einer jungen Mutter
hatte er eine Weile ihr Wickelkind gehalten und einen beleibten Mann, der
allem Anschein nach ein Metzger war, um Wechselgeld gebeten. Lauter Gelegenheiten,
nach welchen die Betroffenen ahnungslos mit leeren Taschen oder Geldbörsen
dastanden, aber glücklich waren, einen so netten, hilfsbereiten Herrn in
ihrer Nähe zu haben.
Etwas gelangweilt stand Herr Fanglinger nun da und las ein wenig die
Nachrichten in der Zeitung mit, die der Herr am Fenstersitz gerade studierte.
Herr Fanglinger war nicht ganz bei der Sache, denn er überschlug in Gedanken
seinen heutigen Gewinn. In seinen Taschen, hier und da aufgeteilt, befanden
sich nun bereits drei Herrenuhren samt Goldketten, ein teurer, schwerer
Goldreif, fünf pralle Geldbörsen, Ringe sowie anderes, was er als verschnürte
Päckchen entwendet hatte. Er hoffte, daß sie wertvolle Dinge enthielten.
Nun erwog er vorsichtig, ob es nicht ratsam wäre, beizeiten die Pferdebahn
zu verlassen und sich im Gedränge der Gehsteige zu verlieren, als - was?
Was war das?
Nein. Das war doch unmöglich. Unerhört war das!
Unbeweglich stand Herr Fanglinger da, während sich seine Gedanken förmlich
überschlugen. Schließlich konzentrierte er sich auf die Bewegungen einer
kleinen, zarten Hand, die sich unendlich behutsam aus einer seiner Taschen
in die andere stahl. Doppelte Knopfreihen, Sicherheit? Alles Einbildung.
Die Hand war da, die Knöpfe alle offen, die Taschen leer.
Herr Fanglinger schwankte zwischen Ärger und plötzlich erwachendem
beruflichem Interesse. Was da mit ihm geschehen war, das hätte er selbst
nicht besser machen können, war also das Werk einer tüchtigen Konkurrenz.
Wer war das ? Schnell einen Blick nach hinten werfen:
Da stand ein halbwüchsiges Mädchen, hübsch, sehr sorgfältig gekleidet,
freundlich lächelnd.
Das Gesicht des Mädchens drückte eher Langeweile aus als angespannte
Aufmerksamkeit, während jetzt das letzte Stück aus Herrn Fanglingers Manteltasche
verschwand.
Was er hernach tun wollte, das hatte sich Herr Fanglinger blitzartig
und bis ins kleinste zurechtgelegt. Also konnte er den Augenblick darauf
verwenden, das unbekannte Mädchen vom technischen Standpunkt aus bei seiner
Tätigkeit zu beobachten. Unter Umständen ließe sich da der eine oder andere
Kunstgriff hinzulernen.
So sehr es ihn auch wurmte, mußte Herr Fanglinger dennoch zugeben,
daß das junge Mädchen ihm, dem Besten aller Taschendiebe, in der Fingerfertigkeit
kaum nachstand. Noch einige Jahre und sie würde ihn überflügelt haben.
Das schien sicher. Wäre es da nicht besser, sich mit der jungen Dame zu
verbünden, als sie jetzt mit Radau zu entlarven und sie sich zur Feindin
zu machen?
Also führte Herr Fanglinger lächelnd durch, was er sich vorhin zurechtgelegt
hatte. Mit einer blitzartigen Bewegung griff er zu, als die zarte Hand
des Mädchens gerade die letzte Tasche durchwühlen wollte. Eisern legte
sich die feingegliederte, langfingerige Hand des Königs aller Taschendiebe
um das schmale Handgelenk der schönen Konkurrenz. Ein kurzer Blick nach
hinten überzeugte ihn davon, daß der Schock vollkommen war. Das Lächeln
war aus dem Mädchengesicht verschwunden, die Wangen hatten sich krebsrot
gefärbt.
Mit einer unglaublich raschen, schlangenartigen Bewegung suchte die
Ertappte, sich ihm zu entwinden, Herrn Fanglingers Griff aber war so fest
wie der eines Schraubstocks.
Dann wandte er sich ruhig und weiterhin freundlich lächelnd dem Mädchen
zu.
Das Mädchen schrie, aber nur mit den Augen:
Lassen Sie mich los, bitte, bitte, ich will es bestimmt nie wieder
tun!
Herr Fanglinger antwortete, auch nur mit den Augen: Du bist schön und
auch geschickt. Du mußt mit mir kommen. Dann sprach er so leichthin, als
sei überhaupt nichts geschehen, die junge Dame an: »Komm, wir müssen aussteigen.
Da ist schon unsere Haltestelle.«
Unterwegs nahm er seine Gefangene beim Arm, führte sie so, daß jeder
denken mußte, die beiden gehörten ganz einfach zueinander. Daß die Hand
des Mädchens nicht zärtlich umschlossen, sondern unentrinnbar wie in Handschellen
in seiner lag, das sah man weder ihm noch ihr an. Hatten sie doch beide
allen Grund, ihr wahres Verhältnis vor den Vorübergehenden zu verheimlichen.
In seiner Wohnung angelangt, ließ er sie endlich frei. Sie rieb sich
die Finger, das Handgelenk. Herr Fanglinger sagte kein einziges Wort, ließ
ihr Zeit, sich vom Schreck zu erholen. Er sah sie auch keineswegs böse
an, winkte nur nach einer Weile unmißverständlich mit dem Zeigefinger.
Das Mädchen war klug, begriff auch ohne lange Erklärungen. Es legte
nacheinander die Gegenstände, die es in Herrn Fanglingers Taschen gefunden
hatte, auf das Tischtuch aus dunkelgrünem Samt. »Das Tuch ist schon ziemlich
schäbig und verschlissen«, sagte sie und versuchte ein Ablenkungsmanöver.
»Sie sollten sich ein neues Tischtuch kaufen.«
Herr Fanglinger nickte, seufzte und sagte so nebenbei: »Noch eine schwere,
goldene Uhr, bitte.« Als die kurz darauf auch neben den anderen rückerstatteten
Gegenständen auf dem schäbigen Samttuch glänzte, forderte er: »Und jetzt
noch die dicke Goldkette, die dazu gehört.«
Da brach das fremde Mädchen in Tränen aus.
Teilnahmsvoll erkundigte sich Herr Fanglinger:
»Weshalb weinst du denn ? Wenn man so viel Talent hat wie du, braucht
man nicht zu weinen.«
»Talent hin, Talent her, aber was esse ich heute ?«
Da wurde Herr Fanglinger von Mitleid geschüttelt. Er fragte: »Möchtest
du ein Spiegelei?«
Leise und verschämt kam die Antwort: »Ja, bitte.«
»Du kannst ein Spiegelei essen«, sagte er darauf, »aber nur, wenn du
es dir selber machst.«
»Auch für Sie eins ?«
Herr Fanglinger nickte zufrieden. Dann setzte er sich in seinen Polsterstuhl,
merkte plötzlich,
Ein kurzer Blick nach hinten überzeugte ihn davon, daß der Schock vollkommen
war. Das Lächeln war aus dem Mädchengesicht verschwunden, die Wangen hatten
sich krebsrot gefärbt.
Mit einer unglaublich raschen, schlangenartigen Bewegung suchte die
Ertappte, sich ihm zu entwinden, Herrn Fanglingers Griff aber war so fest
wie der eines Schraubstocks.
Dann wandte er sich ruhig und weiterhin freundlich lächelnd dem Mädchen
zu.
Das Mädchen schrie, aber nur mit den Augen:
Lassen Sie mich los, bitte, bitte, ich will es bestimmt nie wieder
tun!
Herr Fanglinger antwortete, auch nur mit den Augen: Du bist schön und
auch geschickt. Du mußt mit mir kommen. Dann sprach er so leichthin, als
sei überhaupt nichts geschehen, die junge Dame an: »Komm, wir müssen aussteigen.
Da ist schon unsere Haltestelle.«
Unterwegs nahm er seine Gefangene beim Arm, führte sie so, daß jeder
denken mußte, die beiden gehörten ganz einfach zueinander. Daß die Hand
des Mädchens nicht zärtlich umschlossen, sondern unentrinnbar wie in Handschellen
in seiner lag, das sah man weder ihm noch ihr an. Hatten sie doch beide
allen Grund, ihr wahres Verhältnis vor den Vorübergehenden zu verheimlichen.
In seiner Wohnung angelangt, ließ er sie endlich frei. Sie rieb sich
die Finger, das Handgelenk. Herr Fanglinger sagte kein einziges Wort, ließ
ihr Zeit, sich vom Schreck zu erholen. Er sah sie auch keineswegs böse
an, winkte nur nach einer Weile unmißverständlich mit dem Zeigefinger.
Das Mädchen war klug, begriff auch ohne lange Erklärungen. Es legte
nacheinander die Gegenstände, die es in Herrn Fanglingers Taschen gefunden
hatte, auf das Tischtuch aus dunkelgrünem Samt. »Das Tuch ist schon ziemlich
schäbig und verschlissen«, sagte sie und versuchte ein Ablenkungsmanöver.
»Sie sollten sich ein neues Tischtuch kaufen.«
Herr Fanglinger nickte, seufzte und sagte so nebenbei: »Noch eine schwere,
goldene Uhr, bitte.« Als die kurz darauf auch neben den anderen rückerstatteten
Gegenständen auf dem schäbigen Samttuch glänzte, forderte er: »Und jetzt
noch die dicke Goldkette, die dazu gehört.«
Da brach das fremde Mädchen in Tränen aus.
Teilnahmsvoll erkundigte sich Herr Fanglinger:
»Weshalb weinst du denn ? Wenn man so viel Talent hat wie du, braucht
man nicht zu weinen.«
»Talent hin, Talent her, aber was esse ich heute ?«
Da wurde Herr Fanglinger von Mitleid geschüttelt. Er fragte: »Möchtest
du ein Spiegelei ?«
Leise und verschämt kam die Antwort: »Ja, bitte.«
»Du kannst ein Spiegelei essen«, sagte er darauf, »aber nur, wenn du
es dir selber machst.«
»Auch für Sie eins ?«
Herr Fanglinger nickte zufrieden. Dann setzte er sich in seinen Polsterstuhl,
merkte plötzlich, daß der auch arg zerschlissen war - ein Umstand, der
ihm bis zu diesem Augenblick noch nie aufgefallen war, las gemütlich die
Nachrichten aus einer Zeitung, die zufällig mitsamt der Geldbörse aus einer
fremden Aktentasche mitgekommen war, und freute sich auf das Spiegelei.
Die Gespräche zwischen den beiden, die es während des Mittagessens
und wohl auch nachher gegeben hat, sind nicht bekannt. Es ist möglich,
daß es dabei um berufliche Fragen ging, es ist auch nicht ausgeschlossen,
daß sie sich gegenseitig ihre Spezialgriffe beibrachten. Fest steht nur,
daß das Mädchen den ganzen Nachmittag dort blieb und daß Herr Fanglinger
nach dem Abendessen sagte, wobei er sich heftig verschluckte:
»Weißt du was? Ich bitte dich um deine Hand. Hm, hm. Aber nicht in
meinen Hosen- oder anderen Taschen, sondern ich bitte dich um deine Hand,
wie man so schön sagt, zum Heiraten.«
»Na gut«, antwortete das Mädchen hierauf, woraus Herr Fanglinger entnahm,
daß es keine besonders gute Erziehung genossen hatte.
So also war es zugegangen, als Gaunis Eltern sich kennenlernten. Von
da an arbeiteten sie gemeinsam, schafften sich immer neuere, immer wertvollere
Einrichtungsgegenstände an, schließlich brachten sie es so weit, daß sie,
wie eingangs erwähnt, in Fachkreisen als die Könige der Taschendiebe angesehen
wurden.
Es war nicht zu vermeiden, daß eines Tages der kleine Gauni zur Welt
kam. Dadurch wurden seine Eltern zwar für einige Zeit an der Ausübung ihres
Berufes gehindert, bald aber war er groß genug, um langsam auch ins Fach
eingeführt zu werden.
Als sie die Wohnung im neuen zweistöckigen Haus am Flußufer fanden,
war das kleine Häuschen, das sie bis dahin bewohnt hatten, gerade zu eng
geworden.
Also schien es ihnen ein Glück, ein so komfortables Haus gefunden zu
haben, und sie bezogen die Räume des ersten Stockwerks auf der Stelle.
4. KAPITEL Von einem Mädchen, das aus dem Gewächshaus kam
Die Eltern des Mädchens S i b y 11 e, das in unserer Geschichte eine
wesentliche Rolle spielt, hatten die Räume des zweiten, also des obersten
Stockwerks in dem neuen Wohnhaus am Flußufer bezogen. Sibylle war, obwohl
sie mitunter den gegenteiligen Eindruck erweckte, ein ganz gewöhnliches
Kind. Vielleicht war sie mit einer reicheren Phantasie begabt als andere
Kinder, es könnte aber auch sein, daß sie nur die Welt, die Menschen und
die Dinge mit offeneren Augen betrachtete als die meisten Leute. Ansonsten
lebte und fühlte sie genauso wie alle anderen ihresgleichen. Hervorzuheben
wäre allerdings, daß Sibylle denken konnte. So be-trachtet, unterschied
sie sich nun tatsächlich von den meisten Menschen.
Vielleicht rührte diese Fähigkeit aus dem Umstand, daß ihre Eltern
Berufe ausübten, die sozusagen Erde und Himmel verbanden: Sibylles Mutter
war Gärtnerin. Durch Kneten und Vermengen mit Sand, Ziegelstaub und gestampftem
Mörtel bereiteten ihre Hände die Erde so vor, daß die zarten Pflanzen sich
wohlfühlten und entfalten konnten. Sie beobachtete ihr Wachstum, hielt
Unkraut und Schädlinge von ihnen fern, erntete, wenn die Zeit da war, Wurzeln,
Früchte oder Blumen, je nach der Art.
Sie liebte es, barfuß auf dem festgestampften Boden des Gewächshauses
zu stehen und mit behutsamen Händen die Erde zu pflegen. Aus dieser doppelten
Berührung kam ihr Kraft. Wenn sie sprach, klang es weich, und wenn sie
durch die Straßen schritt, sah sie aus wie ein schwerer, voller Blumentopf
mit üppig über alle Ränder wuchernden Trieben.
Sibylles Vater war ein schweigsamer Mann. Nacht für Nacht saß er vor
seinen funkelnden Messingrohren und beobachtete die Sterne. Sein Denken
kreiste um die Himmelskörper, als habe es dort oben seine eigene Bahn,
seine Augen trugen den Glanz der unbeschreiblichen Farben der Sternennebel.
Er war schon sehr alt.
Man sprach damals bereits häufiger über die Möglichkeit, daß man doch
irgendwann Leben im Weltall finden müsse. Danach suchte er, staunte aber
nicht weniger über das Wunder des keimenden Lebens im Gewächshaus seiner
Frau. (Was auch ein Grund dafür war, daß Sibylles Eltern lange Jahre in
diesem Glashaus wohnten, ohne nach einer herkömmlichen Wohnung zu verlangen.)
Grenzenlos war seine Freude, als seine Frau eines Nachts niederkam
und Sibylle zur Welt brachte. Damals sprachen sie lange miteinander, und
er erzählte ihr von seiner Erkenntnis, daß das sprießende Leben der Pflanzen,
das Dasein ihres Kindes und die Hoffnung auf Leben im All keineswegs drei
verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe seien.
Im Glashaus verliefen Sibylles erste Jahre unter dem Auf- und Untergehen
von Sonne und Sternen. Die dünne Glasschicht, die ihre Wohnstube von der
Außenwelt trennte, schützte sie zwar vor Kälte, Schnee oder Sturm, versperrte
ihr aber nicht die freie Sicht nach allen Seiten. Treibende Blätter, trommelnder
Hagel, neues Grün gehörten in Sibylles Welt wie der flatternde Sperling
oder ein wochenlang trüb verhangener Himmel. Regen bedeutete für Sibylle
ein Ereignis, denn sein Rauschen füllte die Stille im Glashaus mit Klängen.
In der neuen Wohnung am Flußufer fand Sibylle Bequemlichkeiten, die
sie bis dahin nicht gekannt hatte. Täglich genoß sie das warme Bad, das
Gehen aus einem Raum in den anderen war ihr ein Spiel. Den leisen, stetigen
Luftzug, mit dem sich der Wind durch undichte Stellen ins Glashaus gestohlen
hatte, ließen die dicken, gemauerten Wände nicht durch, aber auch die Sonne
konnte nicht mehr ungehindert hereinscheinen, sondern mußte sich für wenige
Stunden des Tages mit der Fensteröffnung begnügen, um die Räume zu erhellen.
Ein eigenartiges Gefühl stellte sich auch beim Laufen über die weichen
Wollteppiche ein, mit denen der ganze Fußboden belegt war. Es war ganz
anders als im Glashaus auf dem feuchten Erdboden, wo man bei jedem Schritt
Sand und Steinchen unter den Schuhsohlen fühlte.
Weil aber, wie gesagt, die Wände so gänzlich undurchsichtig waren,
daß graue Schatten in allen Räumen lagen, strichen Sibylles Eltern alle
Wände mit dem reinsten Weiß, kauften ausschließlich weiße Möbel, weiße
Teppiche, weiße Vorhänge, und die Mutter stellte in alle Ecken, auf alle
Tische vielfarbige Blumensträuße aus dem Glashaus.
Sibylles Vater konnte auf dem Balkon seiner Arbeit nachgehen und den
Lauf der Gestirne beobachten.
5. KAPITEL Von Schwierigkeiten und deren Beseitigung
So wäre in dem neuen Wohnhaus am Flußufer alles seinen ruhigen Gang
gegangen, hätte Geinis Sippe nicht die zehn bissigen Hunde gehabt. Die
liefen den ganzen Tag wachsam vor dem Gebäude hin und her und ließen keinen
Fremden ins Haus, nicht einmal die neuen Einwohner des ersten und des zweiten
Stockwerks.
Was hinter dem Haus vor sich ging, das scherte sie wenig. Sie bewachten
den Eingang.
Familie Fanglinger, gewohnt, schwierige Situationen zu meistern, ließ
sich durch die Hunde nicht aus ihrer Ruhe bringen. Sie beschaffte sich
ohne viel Mühe eine lange Leiter, lehnte sie vom Ufer aus an ihren Balkon
und stieg vergnügt darauf in die Wohnung. Bis zum ersten Stock brachte
dies wirklich keine sonderlichen Schwierigkeiten mit sich. Zudem konnte
man nie wissen, wie sich eine derartige Fertigkeit im Ersteigen von schwankenden
Leitern einmal im Beruf anwenden ließe.
Bedeutend schwieriger gestaltete sich das Problem für Sibylle und ihre
Eltern. Eine Leiter bis zum zweiten Stockwerk zu legen, war zu gefährlich,
ganz abgesehen von der Tatsache, daß ein solches Ungetüm nicht aufzutreiben
war.
Es gab ein wenig Arger mit Geinis Familie, bis Sibylle die Lösung fand:
Wurde sie von den zehn bissigen Kötern erblickt und gejagt und hatte
sie zugleich große Sehnsucht nach ihrem weißen Heim, dann kletterte sie
behende die alte, schrägstehende Trauerweide neben dem Haus hoch, auf der
höchsten Spitze breitete sie die Arme aus und flog ganz einfach auf ihren
Balkon hinauf.
Fehlte eines von beidem, die Not oder die Sehnsucht, gelang es ihr
nicht. Nur so ging es.
Die Eltern lernten das bald von ihr, und so standen die drei Familien
im besten Einvernehmen miteinander.
II. TEIL
l. KAPITEL Von der ersten Begegnung der drei Kinder
Zum erstenmal waren die drei Kinder Geini, Gauni und Sibylle einander
am Flußufer begegnet. Jedes von ihnen war mit dem beschäftigt, was ihm
den meisten Spaß bereitete. Geini stand am Ufer und fischte mit einer selbstgebastelten
Angelrute. Die vielen Arten von Fischen hatten es ihm angetan. Ein solcher
Fischreichtum war in einem gewöhnlichen Fluß nun auch tatsächlich eine
Seltenheit. Geini sprach kein Wort, beobachtete nur aufmerksam seinen Schwimmer,
den er aus einem Stück Flaschenkork hergestellt hatte. Hin und wieder blinzelte
er zu den beiden anderen Kindern hinüber, die allem Anschein nach im gleichen
Haus wohnten.
Gauni streunte am Ufer umher und suchte nach schönen Dingen, die andere
dort vielleicht verloren hatten. Denn das war die theoretische Seite der
Ausbildung, die seine Eltern ihm angedeihen ließen: Nicht nur Verständnis
für schöne Dinge (wenn möglich für solche, die nichts kosteten) zu erwerben,
sondern auch die Lust, immer mehr davon zu besitzen. Manchmal hielt er
im Suchen inne, setzte sich ins Gras und führte Fingerübungen und Lockerungsbewegungen
für Handgelenk, Ellbogen und die einzelnen Finger durch.
Sibylle saß im Ufergras, die weichen Zweige der Trauerweide streichelten
sie bei jedem kleinen Luftzug. Die blonden Haare fielen ihr reich über
die Schultern. Es sah aus, als säße sie unter einem kleinen, spitzgiebeligen,
gelben Dach. Sie hielt die Arme um die Knie geschlungen und sah den beiden
Jungen zu. Von Geini schaute sie immer rasch fort, es behagte ihr nicht,
daß er fischte. Sie konnte den Gedanken schwer ertragen, daß die Tiere
erst mit guten Bissen angelockt und dann aus ihrem Lebenselement gezogen
werden sollten. Aber sie verlor darüber kein Wort und bemühte sich, ihren
Unwillen zu verbergen. An Geini mißfielen ihr auch seine ärmlichen Kleider,
und überhaupt begriff sie wenig von alldem, was mit Geini und seiner Familie
zusammenhing.
Dann sah Sibylle eine Weile dem anderen Jungen zu, den seine Eltern
Gauni riefen. Der machte einen bedeutend besseren Eindruck auf Sibylle.
Sie bewunderte seine Ausdauer bei den Fingerübungen und fragte sich, was
für ein Musikinstrument er wohl spielen mochte oder wofür sonst er so viel
Fleiß und Mühe aufwandte.
Vielleicht war es nur ein Zufall, daß Geini und Gauni im gleichen Augenblick
Erfolg hatten. Geini zog einen zappelnden Fisch aus dem Wasser, Gauni zog
ein silbrig glänzendes, kleines Messer aus einem Schutthaufen hervor. Während
Geini seinen Fisch vom Angelhaken löste, säuberte Gauni seinen Fund von
Erde und Staub. Im gleichen Augenblick kamen die beiden Jungen von rechts
und links auf Sibylle zu, stellten sich wie verabredet zu beiden Seiten
von ihr auf und boten ihr an, was sie anzubieten hatten: Geini seinen Fisch
und Gauni das kleine Messer.
»Er ist aus Silber«, sagte Geini und hielt ihr den Fisch vor die Nase.
»Willst du ihn haben?«
»Willst du es haben ?« fragte Gauni, hielt ihr das Messer hin und fügte
hinzu: »Es ist aus Silber.«
Sibylle sah von einem zum ändern. »Danke«, sagte sie zu Geini, »ja,
ich möchte den Fisch haben.« Behutsam nahm sie das zappelnde Lebewesen
aus der Hand des Jungen, rannte ans Ufer und warf es ins Wasser zurück.
Der Fisch beschrieb einen glitzernden Bogen, tauchte in die Wellen und
war verschwunden.
Eine Weile war Geini außerstande, etwas zu sagen. Schließlich gelang
es ihm, mit zischender Stimme zwischen den Zähnen hervorzubringen:
»Was fällt dir ein ? Einen Fisch, den ein anderer mit Mühe und mit
Geduld gefangen hat, ins Wasser zurückzuwerfen ...«
»Hast du nicht gehört?« fragte Sibylle.
»Was hätte ich da viel hören können ?«
»Hast du nicht gehört, wie er rief, laß mich zurück ?«
Geini stellte fest, daß er hierauf keine Antwort wußte. Er lief an
den Fluß zurück. Unterwegs spuckte er dreimal hinter sich aus, damit Sibylles
Dummheit sich nicht auch auf ihn übertrug, dann stellte er sich auf einen
Stein, der aus dem Wasser herausragte. Um ihn herum wimmelte und glitzerte
es von Fischen. Geini horchte zum Wasser hin. Nein, alle waren stumm, außer
dem einen, der mit Sibylle gesprochen hatte. So ein Blödsinn. Seine schwarzen
Locken funkelten in der Sonne, weil er vor Wut mit dem Kopf wackelte.
Unterdessen hatte Gauni sein silbriges kleines Messer wieder eingesteckt.
Wie hatte er nur daran denken können, es dem fremden Mädchen zu schenken,
mochte es tausendmal im gleichen Haus wohnen! Es war wohl besser, er erzählte
den Eltern nichts davon. Nun lief er zu Geini und stellte sich neben ihn.
»Wohnst du auch da?« Mit dem Kinn wies er auf das neue Haus am Flußufer.
»Im Erdgeschoß«, antwortete Geini. »Ich im ersten Stock. Wie heißt du ?«
Sie sagten einander ihre Namen, dann fragte Gauni: »Weshalb haltet ihr
so viele Hunde ?«
Geini sah ihn verständnislos an. »Weil sie uns gehören«, sagte er schließlich.
»Warum fragst du nicht nach unseren Hühnern oder nach den Schweinen ? Von
denen haben wir noch mehr als von den Hunden.«
»Es ist nur, weil die Hunde uns nicht ins Haus lassen. Was habt ihr
gegen uns ?«
»Nichts«, sagte Geini. »Aber ihr geht doch in eure Wohnung. Wie ?«
»Wir haben eine Leiter«, teilte Gauni mit.
»Dann ist es in Ordnung.« Damit war der Fall für die beiden Jungen
erledigt.
Danach fragte Gauni den neuen Freund: »Und sie, wie kommen sie ins
Haus?« Er machte eine Bewegung zu Sibylle hin. »Wohnen sie nicht im zweiten
Stock?«
»Ich glaube, sie fliegen«, sagte Geini hierauf. »Wollen wir sie fragen?
Komm.«
Die Jungen setzten sich zu Sibylle unter die Weide. Der eine rechts,
der andere links. Zunächst sagten sie nichts. Sibylle, ans Alleinsein gewöhnt,
wußte auch nicht recht, was sie hätte sagen können. Was tat man, wenn plötzlich
zwei Kinder neben einem saßen? Verstohlen guckte sie unter ihrem Haardach
hervor, bald zu Geini, dann wieder zu Gauni. Gauni roch gut und war sauber
bis zu den Fingernägeln hin. Geini stak in total durchlöcherten Kleidern
und roch schlecht. Auch gewaschen hatte er sich wohl seit langem nicht
mehr.
Irgendwann tat Geini als erster den Mund auf und erkundigte sich: »Wie
heißt du ?«
»Ich heiße Sibylle.«
Das Eis war gebrochen. »Wohnst du auch hier?« fragte Gauni.
Sibylle nickte.
»Das ist der Gauni«, stellte Geini seinen neuen Freund vor.
Sibylle dachte die ganze Zeit, wenn der mir jetzt wieder sein Messer
anbietet, was soll ich dann nur tun? Ich brauche das doch nicht.
Gauni bot ihr das Messer nicht noch einmal an, obwohl er es aus der
Tasche zog und die Sonne darauf spielen ließ. Schließlich sagte er: »Das
ist der Geini, Sibylle.«
Nun wußte Sibylle, wen sie neben sich im Gras sitzen hatte. Als sie
noch ein wenig geschwiegen hatten, wurde es ihr zu dumm, sie stand auf
und sagte: »Ich muß jetzt nach Hause.«
Daß die beiden Jungen sich einen bedeutungsvollen Blick zuwarfen, merkte
sie nicht mehr. Gauni sagte schnell: »Du mußt nach Hause? Du kannst ja
gar nicht! Die Hunde lassen dich nicht ins Haus.«
»Ich kann doch«, gab Sibylle zur Antwort. »Wie machst du das ?« Sibylle
schwieg.
»Sie fliegt«, antwortete Geini an ihrer Stelle. Sibylle fühlte sich
bedrängt. Was wollten diese fremden Jungen von ihr? »Was wollt ihr von
mir?« fragte sie.
Geini begriff, daß Sibylle Angst vor ihnen hatte. Er sagte: »Hab doch
keine Angst, Sibylle. Wir tun dir nichts. Wir wollen deine Freunde sein.«
Sibylle sah lange auf Geini. Dabei dachte sie an die vielen Blumen
im Glashaus und an die unzähligen Sterne, die man durch Vaters Fernrohre
sah. Sie dachte daran, wie schön es im Glashaus gewesen war, wie herrlich
das All anzusehen ist. Aber immer allein war sie da gewesen, und im All
war überhaupt niemand, nur Himmelskörper. Hier, im neuen Haus, gab es Menschen.
Zwei von diesen
Menschen wollten ihre Freunde sein. Durfte sie ihnen trauen?
Plötzlich war ihr alles klar: Blumen und Sterne waren schön, aber eine
Freundschaft mit Menschen bedeutete mehr. Boten sich einem Menschen als
Freunde an, so durfte man glücklich sein. Und sie hatte gleich als erstes
Geinis Geschenk, den silbrigen Fisch, fortgeworfen.
»Verzeih, Geini«, sagte sie. »Ich meine, das mit dem Fisch.«
»Es ist gut«, erwiderte Geini. Dann wollte Sibylle den Freunden entgegenkommen:
»Ihr habt vorhin gesagt, daß ich fliege.« »Kannst du es wirklich ?« »Natürlich.«
»Bring es uns auch bei«, bat Gauni. So sehr das Fliegen seinen Eltern
in ihrem Diebsberuf auch zustatten käme — in diesem Augenblick dachte Gauni
wirklich nicht daran. Er wollte nichts anderes, als einem Schmetterling
gleich durch die Luft gaukeln können. Ganz ohne Hintergedanken, ganz ohne
Berechnung bat er noch einmal:
»Lehr es uns doch auch, Sibylle.«
Sibylle mußte ziemlich lange überlegen, ehe sie hervorbrachte: »Ich
weiß nicht, wie das mit dem Fliegen ist, ich meine, wie ich es zustande
bringe. Ich kann es einfach.«
»Denk nach, Sibylle, denk gut nach!« Gauni wurde eindringlich.
Sibylle schwieg. Sollte sie nun die beiden Jungen, ihre allerersten
Freunde, sofort wieder verlieren, nur weil sie ihnen nicht erklären konnte,
wie sie flog?
»Was tust du als erstes?« drängte nun auch Geini. »Als erstes ...«
Sibylle sprach wie im Traum, weil es ihr bis zu diesem Augenblick tatsächlich
noch nie ins Bewußtsein gedrungen war, wie sie es zustande brachte, sich
von der Trauerweide aus in die Luft zu erheben, »als erstes habe ich Angst
vor euren Hunden, Geini. Die wollen mich nie ins Haus lassen, das weißt
du doch.« »Und nachher ?«
Sibylle schloß die Augen und versuchte sich alles zu vergegenwärtigen,
was sich in ihr zutrug, ehe sie flog. »Ja«, sagte sie schließlich, »ich
habe dann auch immer so Sehnsucht nach oben. Aber es muß beides sein: die
Angst vor den Hunden, das Gejagtwerden und die Sehnsucht nach oben. Sonst
geht es nicht.« »Du mußt es uns beibringen.« Gaunis Stimme klang anders
als vorhin. Ein wildes Begehren machte sie hart. »Du mußt.«
Schlagartig versetzte diese Stimme Sibylle in eine abwehrende Haltung.
»Ich werde meine Eltern fragen, ob sie es mir erlauben«, versprach sie.
Gleich darauf wußte sie nicht mehr ganz sicher, ob sie die beiden Freunde
wirklich behalten wollte oder lieber nicht.
2. KAPITEL Wie Fridolin in die Kleine Stadt zum Jahrmarkt ging
Es war eine der letzten Sommernächte dieses Jahres. Fridolin saß auf
der Bank vor der Blockhütte. Von der Berg-____ kuppe her klang das leise
Brodeln der Schlammvulkane. Im Wald rief manchmal ein Nachtvogel, knackte
zuweilen ein Ästchen unter den vorsichtigen Tritten irgendeines wilden
Tieres.
In Fridolins Gemüt herrschte Frieden. Er dachte an jenes selige Gleiten
wie auf wunderbaren Klängen, unter denen er vor undenklichen Zeiten immer
tiefer und tiefer geschwebt war und sich dann plötzlich hier neben Elmorck
befunden hatte.
Fridolin wußte um die Unterschiede, die ihn und den Gnom zugleich trennten
und zusammenführten.
Elmorck haßte, er selbst liebte. Elmorck wollte den Tod alles Lebendigen,
er selbst suchte das Gefällte wieder aufzurichten.
Elmorck wühlte im Schlamm, er selbst sang und formte wunderbare Gebilde
aus dem Schlamm, der den Vulkanen entquoll.
Elmorck hatte übergroße, sehende, blaßviolette Augen, er selbst war
beinahe völlig erblindet von den kalten, beißenden Dämpfen, die unaufhörlich
aus den Vulkanen krochen, sein Augenlicht angegriffen und zerstört hatten.
Das einzige, was er noch gut und deutlich sah, waren die herrlichen Augen
des Gnoms, die wie heller Flieder in die tiefe Dämmerung hineinleuchteten,
die sich über Fridolins Augenlicht gebreitet hatte.
Da kam Elmorck eilfertig von seiner Vulkanhalde herangerollt.
»Fridolin«, rief er schon von weitem, »ich habe Hunger! Nein«, verbesserte
er sich, »ich habe nie Hunger, wohl aber Appetit! Und ich weiß, daß du
heute wieder etwas Gutes gekocht hast. Bring es mir heraus!«
Fridolin brachte Elmorck das Verlangte. Elmorck aß, schmatzte, prustete,
verspritzte das Essen nach allen Seiten. Immer wieder sprang er auf und
setzte sich auf eine andere Stelle. Mit Grasbüscheln wischte Fridolin die
Bank sauber.
»Fridolin«, schrie Elmorck, »jetzt will ich trinken! Bring Wasser.
Es war gut, hoho, das Essen war gut! Hast du noch Wärmkräuter und rote
Heizsteine? Nein? Dann mußt du welche holen, mein Lieber! Du bist recht
nachlässig geworden!«
Fridolin hörte Elmorck zu, während er sich über die Quelle beugte wie
über etwas Lebendiges. In seinem Herzen gab es keinen Groll. »Bitte, Elmorck«,
sagte er dann, »hier, deinen Trunk.«
»Hast du heute etwas Neues modelliert ?« erkundigte sich der Gnom.
»Die Hütte, die ganze Umgebung ist ja schon übersät von demen komischen
Kunstwerken. Übrigens habe ich heute die Krater gesäubert und dir eine
Menge toter Vögel herausgefischt. Es sind wieder ganze Scharen hineingefallen
und darin erstickt, hihi, wie mich das freut!«
Auch jetzt blieb Fridolin ruhig. Er wußte, daß er diesen Vögeln wieder
zum Leben verhelfen konnte: In den starren, verkrampften, gebrochenen Klumpen
ertastete er mit wissenden Händen den Leib und die Bewegung des unglücklichen
Vogels, formte dann aus grauem Ton dessen Ebenbild in schwereloser Bewegung,
mit ausgebreiteten Schwingen, schenkte ihm so Leben und Freiheit wieder.
Schnaufend wischte sich Elmorck den Mund ab, befahl: »Und jetzt, die
Drehorgel! Hast du eine neue Weise erfunden? Hast du aus dem Vulkanschlamm
wieder Metall gewonnen, um dir neue Pfeifen zu gießen? Hast du neue Lieder
ersonnen? Der Klang deiner Drehorgel, Fridolin, der läßt sich einfach mit
nichts vergleichen!«
Damit meinte Elmorck die Töne, die er aus seiner Umgebung kannte: das
Prasseln des Regens, das Pfeifen des Windes, das Brodeln seiner Vulkane,
Waldrauschen, Tierstimmen, plätscherndes Wasser der kleinen Quelle. Daß
der Klang der Drehorgel sich mit keinem dieser Laute vergleichen ließ,
darin hatte er recht.
Was aber wußte er von den Musikinstrumenten, die es bei den Menschen
gab? Was ahnte er vom Schluchzen der Geigen, vom Dröhnen der Posaunen,
vom Hämmern der Klaviere, vom großen gewaltigen Brausen der Orgeln? Und
hätte er auch etwas davon gewußt: Keines dieser Instrumente ließ sich mit
der unendlichen Weichheit der kleinen Pfeifen der Drehorgel vergleichen.
Jedoch etwas gab es, das denselben Klang hatte wie Fri-dolins Leierkasten.
Das war das sanfte Klagen der Tonvögel, die Töpfer auf den Jahrmärkten
feilhielten.
»Spiel, Fridolin, spiel!«
Fridolin gehorchte, er gehorchte gern, weil El-morck die Weisen der
kleinen Drehorgel, die lauen Sommernächte und ihn selbst über alles liebte.
Er spielte lange. So lange, bis Elmorck neben ihm einschlief, von der Bank
kollerte. Fridolin hob ihn auf, trug ihn auf seinen Armen ins Haus, bettete
ihn liebevoll auf sein Lager. Um ihn nicht zu verstimmen, hatte er ihm
nicht erzählt, daß er in aller Frühe aufbrechen würde, um wieder auf dem
Jahrmarkt zu spielen, der alljährlich, wenn der Herbst begann, in der Kleinen
Stadt gehalten wurde. Unsagbar leise schulterte er die Bilderrolle, die
er zu seinen Gesängen brauchte, hängte sich die Drehorgel um, versah sich
mit etwas Proviant und schickte sich an, zur Stadt hinunter zu wandern.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Fridolin den Tannenwald bereits
hinter sich hatte und auf dem Wiesenrain talwärts ging. Sein Weg führte
ihn über Felder, durch Weiler. Auf den Weiden lagen behäbig wiederkäuend
die Kühe, vom Fluß her schnatterten Enten und Gänse. Ob-46 wohl es noch
sehr früh am Morgen war, herrschte in den Dörfern und auf der Landstraße
reges Leben. Von allen Seiten strömten Leute herbei, fuhren festlich gekleidet,
singend und schwatzend, manche auch noch schläfrig vor sich hin dösend,
auf ihren Pferdewagen zur Stadt. Einer nach dem anderen rollten sie heran,
einfache Leiterwagen und vornehme Kutschen, wirbelten Staub auf, fuhren
eilig davon, um rechtzeitig zum Jahrmarkt zu gelangen. Ein Jahrmarkt —
welch ein Ereignis für die Menschen von damals; es gab keinen, der ihn
sich entgehen lassen wollte.
Fridolin ging am Rand der Straße. Daß er staubig und müde wurde, störte
ihn nicht. Daß manche der Vorüberfahrenden ihm ein Wort, einen Gruß zuriefen,
ihn vom letzten Jahrmarkt her noch kannten, war ihm nichts Neues. Daß keiner
ihn einlud, aufzusteigen und mitzufahren, wunderte ihn nicht. Er genoß
das ruhige Ausschreiten, die Nähe vieler Menschen, war erfüllt von der
Erwartung des bunten Jahrmarkttreibens.
Um den Weg brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Sah er auch äußerst
wenig, so kannte er doch jede Wurzel, jede Felsklippe. Alle Windungen des
Wegs waren ihm vertraut. Hatte er Hunger, legte er sich in den Schatten
eines Strauches und stärkte sich ein wenig.
Es war später Nachmittag, als er die Kleine Stadt erreichte.
Langsam ging er am Flußufer entlang. Dies war, wie er gut wußte, der
kürzeste Weg zum Markt-47 platz und zugleich für einen beinahe völlig Blinden,
wie er einer war, auch der sicherste.
Als er an dem neuen Wohnhaus am Flußufer vorüberkam, wunderte er sich,
daß an einer Stelle, die er leer in Erinnerung hatte, in so kurzer Zeit
ein großes Haus gebaut worden war. Es drang als breite, hohe, helle Fläche
in sein Sehen ein. Daß sich aber drei Kinder erschrocken hinter dem schrägstehenden
Stamm der alten Weide verbargen, sah er nicht. Ruhig ging er seines Wegs,
immerzu auf seiner kleinen Drehorgel spielend.
Geini, Gauni und Sibylle lauschten betroffen der seltsam dudelnden
Weise, die aus dem fremdartigen Instrument erschallte, musterten auch erstaunt
das Äußere des unbekannten Wanderers. Die fahlen, graugrünen Haare, die
unter der breiten Krempe seines Hutes zottig hervorhingen, seinen rotbraunen
Umhang, die Rolle mit den Bildern, mit denen er seine Gesänge illustrierte,
den prallen Schnappsack.
Vielleicht war es besser, sich von dem Alten nicht erblicken zu lassen.
Dennoch folgten sie ihm wie gebannt, immer in Deckung hinter Bäumen, Hecken
und Häusern, bis er sich endlich auf dem Marktplatz der Kleinen Stadt auf
einen Randstein setzte, zunächst etwas aß, dann schließlich wieder seiner
Drehorgel die weichsten Melodien entlockte.
Bald wurde die Aufmerksamkeit der drei Kinder von tausenderlei anderen
Dingen gefesselt. Staunend sahen sie dem bunten Treiben zu, das sich vor
den Kulissen der alten, spitzgiebeligen Häuserfassaden der tausendjährigen
Stadt abspielte.
Die behäbige Ruhe der Stadt und ihrer Bewohner war dahin. Auf dem ganzen
Marktplatz war ein ohrenbetäubendes Hämmern, Sägen und Klopfen im Gange.
Verschiedene Handwerker bauten ihre Verkaufsbuden auf, spannten sie mit
weiß-rot gestreiftem Segeltuch, stellten Tische hinein, auf denen sie am
nächsten Tag ihre Waren ausbreiten und feilhalten wollten.
Fauchend nahmen einige Katzen Reißaus, als Leute auf ein Dach stiegen
und mit viel Mühe und großem Geschrei zwischen dem Uhrturm und dem Schornstein
eines Hauses ein dickes Seil ausspannen wollten. Darunter lief ein Mann
mit Schelmenmütze und bunt kariertem Trikot aufgeregt hin und her und verursachte
beinahe noch größeres Aufsehen als die Männer, die auf den Dächern hantierten.
Aus den Reden und Zurufen der Umstehenden entnahmen Geini, Gauni und Sibylle,
daß dies ein weltbekannter Seiltänzer war, der am nächsten Tag auf dem
Jahrmarkt seine gefährlichen Künste darzubieten gedachte.
In der Mitte des Marktplatzes hatte sich ein Mann mit einem Stelzbein
aufgestellt und versuchte heute schon, sozusagen zur Probe, seine Maschine
in Gang zu bringen und Zuckerwatte zu spinnen.
Überall hingen bunte Wimpel und Jahrmarktfähnchen. Über den alten Torbogen,
von Schornstein zu Schornstein hatten waghalsige Kletterer sie angebracht.
Unter einem Laubengang bereitete ein Trüppchen Gaukler den klapprigen Leiterwagen
vor, mit dem sie, von einem Eselchen gezogen, herbeigekommen waren und
der ihnen morgen als Bühne für ihr Marionettentheater dienen sollte. Mit
durchdringendem Getriller auf einem uralten, flötenartigen Instrument suchte
einer der Gaukler die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden und Gaffer auf
sich und seine Gefährten zu lenken, um sich auf diese Weise das Publikum
für den nächsten Tag zu sichern.
Geini streckte seine Nase in die Luft, schnupperte, schließlich hatte
er es: »Kommt mit mir!« rief er seinen beiden Freunden zu, »in der Nähe
riecht es nach etwas Gutem! Kommt!« Tatsächlich führte ihn der Geruch bald
zu einer der größten Buden, die auf dem Marktplatz aufgestellt wurden.
Im Augenblick stand sie noch leer, die Ware würde morgen erst ausgelegt
werden. Aber die Luft war erfüllt von einem süßen Duft nach Zimt und Anis,
nach Nelken und Honig.
Hier waren die Lebkuchenbäcker.
»Morgen wird ein Jahrmarkt abgehalten«, hauchte Sibylle.
»Morgen in aller Frühe kommen wir her«, bestimmte Geini.
»Und morgen werde ich euch ein Kunststück vorführen«, versprach Gauni,
»ein Kunststück, das mir nicht einmal ein Schwarzkünstler nachmachen kann!«
Mehr verriet er nicht. Keine Frage, kein Drängen konnten ihn dazu bringen,
ein Wort mehr darüber zu verlieren.
Sibylle nahm das bunte Geschehen auf ihre Art auf. Ihr schien, als
säße sie inmitten eines tiefen Schachtes, dessen Wände aus lauter Tönen
bestanden, die alle zugleich in ihr Ohr dringen wollten. Deshalb schloß
sie die Augen und stellte sich auf einen besonderen Ton ein; tatsächlich
gelang es ihr, den aus dem Gewirr von Klängen zu entnehmen. Zunächst schälte
sie einmal das schrille Pfeifen der Gaukler heraus. Dann suchte sie das
leise Surren der Zuckerwattemaschine. Nein, das ließ sich nicht finden,
das war zu leise. Einzelne Stimmen lösten sich aus dem Ganzen. Sibylle
versuchte sie zu ordnen. Da gab es deutlich die Rufe derer, die mit ihrem
Seil immer noch nicht fertig waren. Sicherlich war es schwierig, ein dickes
Seil an einem Ende um einen Turm und am anderen Ende um einen Schornstein
zu schlingen, es straffzuziehen und fest zu verknoten. Hin und wieder mischte
sich der Brummbaß des Tanzbären unter das Schreien, Rufen und Gepfeife.
Mit einem Gefühl der Sehnsucht stellte sich Sibylle dann auf den Leierkastenmann
ein. Wenn sie die Augen schloß und alle anderen Geräusche fortdachte, so,
als wischte sie sie mit einem Lappen von der Schultafel ab, dann wogten
und schwankten ihr die dudelnden Klänge der kleinen Drehorgel deutlich
entgegen.
»Hört ihr ihn?« fragte sie die Freunde. »Wen? Hier gibt es tausenderlei
zu hören.«
»Den Leierkasten doch!«
Umsonst spitzten Geini und Gauni die Ohren. Sie hörten alles, nur die
Drehorgel nicht. Um sich nicht schämen zu müssen, lachten sie Sibylle dann
aus, weil sie sich für den alten, langweiligen Leierkastenmann mehr zu
interessieren schien als, sagen wir, zum Beispiel für den Seiltänzer mit
seinem lebensgefährlichen Beruf.
3. KAPITEL Vom Jahrmarkt in der Kleinen Stadt und von Gaunis Mißgeschick
Als die drei Freunde nach unruhig und ungeduldig verbrachter Nacht
am anderen Morgen sehr zeitig aufbrachen und ......... zum Markt
liefen, wurden sie auf dem
ganzen Weg von immer noch endlos heranrollenden Pferdewagen überholt
und in Staubwolken gehüllt.
Schließlich gelangten sie hustend, verschwitzt und grau vor Staub zum
Marktplatz. Welch ein Anblick!
Alle Buden strotzten von feilgehaltenen Waren, an den Würstelständen
brutzelte es, aus der Honigkuchenbude duftete es, beim Fischstand war es
ratsam, mit zugehaltener Nase einen Umweg zu machen.
Hunde liefen aufgeregt und hoffnungsvoll umher, Kinder staunten vor
der Bude mit roten und weißen, gestreiften und gepunkteten Gipskatzen und
Gipshunden.
Dralle Dienstmädchen ließen sich von ihren Soldaten Ringe mit blutroten
Glassteinen schenken oder suchten sich auch für ihr eigenes karges Geld
irgendein Schmuckstück aus, eine Haarnadel, eine glitzernde Brosche, eine
Halskette.
Der Mann mit dem Holzbein spann an seiner summenden Maschine weiße
und rosarote Zuckerwatte. Daneben hatte eine Zigeunerin Platz gefunden,
die mit Hilfe ihres hellgrünen, zerzausten Papageis den Leuten die Zukunft
voraussagte. Der Papagei zog aufs Gratewohl Zettel aus einem Kästchen,
auf denen die traurigen, lustigen, absonderlichen oder gewöhnlichen Schicksale
der Leute aufgeschrieben standen.
Ein Junge verkaufte Schimmybälle, die man an Gummistrippen auf- und
abspringen lassen konnte. Man konnte sie aber ebensogut auf den Rücken
anderer Leute knallen, wo sie zerplatzten, weil ihre Hülle nur aus hauchdünnem
Kreppapier bestand. Eine solche Frechheit rief bei den Getroffenen Schrecken
und Entrüstung hervor, bei den Zuschauern Heiterkeit, und die Schimmybälle
ergossen ihren Inhalt, nämlich Sägespäne, auf das Pflaster.
Daß Gauni sich aus dem Staub gemacht hatte, wurde von seinen Freunden
nicht weiter beachtet. Als er aber ebenso plötzlich, wie er verschwunden
war, wieder auftauchte und ihnen je ein Stäbchen in die Hand drückte, staunten
sie sehr. Zumal das Stäbchen lecker und locker mit je einem riesigen rosigen
Bausch Zuckerwatte umsponnen war. Und Zuckerwatte, die muß man kennen,
um ,sie nach Gebühr würdigen zu können! Kaum im Mund, zerging sie auch
schon; und war der Happen, den man abbiß, auch noch so groß, und wühlte
man das Gesicht noch so tief in die klebrige Masse bis man beinahe darin
erstickte - man konnte den Geschmack der Zuckerwatte nur ahnen, weil einem
im Handumdrehen alles auf der Zunge zerfloß, bevor man dazu kam, es richtig
zu schmecken. Und doch: ein unvergeßlicher Genuß, das Gesicht lange und
tief in das weiche, duftende, rosige Gespinst zu drücken, es zu riechen,
es auf der Haut kleben zu fühlen, einfach zu wissen, daß man Zukkerwatte
auf dem Jahrmarkt gekauft hatte!
'Sibylle war die erste, der sozusagen das Herz stehenblieb, als sie
bis an die Ohren in der Zuckerwatte steckte und ihr der Gedanke kam: »Ja,
Gauni, hast du denn so viel Geld bei dir, um für uns drei Zuckerwatte zu
kaufen?«
»Meine Sache«, erklärte Gauni. »Habe ich euch nicht versprochen, euch
heute ein Kunststück vorzuführen ?«
Geini befreite sich etwas mühsam aus dem rosigen Bausch: »Kunststück,
Zuckerwatte zu kaufen!« spottete er.
»Kunststück, sie eben nicht zu kaufen und doch zu haben!« Mit diesen
Worten warf Gauni sein säuberlich abgeschlecktes Stäbchen in die Luft und
beförderte es mit einem Fußtritt geschickt in den Straßengraben.
Sibylle fühlte, wie plötzlich ein Schwindel sie packte. »Das ist ...«,
sagte sie. »Also nicht gekauft und doch gebracht. Das ist ...« Sie wollte
sagen, das ist dann gestohlen. Aber sie brachte es nicht über die Lippen,
wand sich darum herum: »Das ist, das ist dann, vielleicht bekommen. Bekommen.«
Ein langer Seufzer zeigte, wie sehr dieser Gedanke ihr Erleichterung
verschaffte.
»Nein, Sibylle«, antwortete Gauni, »das ist weder bekommen noch gestohlen.
Das ist ein Kunststück. Mein Kunststück.« Er betonte jedes Wort einzeln
und sehr genau. »Denn heute zeige ich. euch, wie versprochen, wie man einen
ganz gewöhnlichen Jahrmarkt in einen Naschmarkt verwandelt. Kommt mit!«
Damit rannte er auch schon los.
Die Neugierde trieb Sibylle und Geini hinter ihm drein.
»Kann er denn zaubern ?« fragte Sibylle schnaufend, während sie ihm
nachliefen. Geini antwortete ebenso schnaufend: »Weiß ich? Vielleicht kann
er es.«
»Aber das kann ja niemand«, gab Sibylle zu bedenken.
»Du kannst doch auch fliegen, Sibylle«, wendete Geini ein, was Sibylle
sofort von der Möglichkeit überzeugte, daß Gauni auch etwas Ähnliches konnte
wie sie, nämlich zaubern.
Unterwegs blieb Sibylle vor dem Stand mit den Töpferwaren stehen. Lange
stand sie da, vergaß Gaunis Kunststück, dachte nicht daran, daß Geini auf
sie wartete. Sie erinnerte sich an einen Töpfer, . der vor seiner Drehscheibe
gestanden hatte.'Mit bloßen Füßen wirbelte er die Scheibe in wilden Kreisen,
seine Hände saugten und zogen aus einem Klumpen Ton die Form eines Kruges.
Seltsam hatte es sie angerührt und war ihr unvergeßlich geblieben.
Sie kaufte einen kleinen, tönernen Kuckuck, braun glasiert, mit bunten
Blumen bemalt, die Öffnung auf der Brust konnte mit dem Zeigefinger abwechselnd
geschlossen und wieder freigelassen werden, wodurch beim Hineinblasen ein
weicher Kuckucksruf erscholl. Für Sibylle war ihr Kuckuck nicht irgendein
totes Ding, ihr Kuckuck war ein lebender Vogel. Lebendig wie die Krüge
und Töpfe alle, die aus einem Klumpen Ton gewachsen waren, von der Hand
des Töpfers geformt.
»Schnell!« rief Gauni in ihre Versunkenheit hinein, .»hör doch endlich
auf mit deinem blöden Gepfeife! Komm sofort zwanzig Schritte zurück!« Sibylle
ließ sich von Gauni mit fortreißen, erstaunt stellte sie fest, daß sie
in einer Hand einen warmen, dick mit Staubzucker bestreuten Krapfen hielt.
»Das gehört zum Zauber«, redete Gaunis Stimme weiter, »daß ihr sofort zwanzig
Schritte zurückrennt, sobald ich euch etwas gebracht habe!« Benommen nahm
Sibylle nachher rote Äpfel von Gauni an, dann warme Würstchen, schließlich
drängte Gauni sie und Geini in einen engen, schmutzigen Gang zwischen zwei
Buden, wo sie dann zu dritt unter flatternden Jahrmarktfähnchen ein ganzes
Glas Honig mit den Zeigefingern leer schleckten. Sibylle stellte fest,
daß bei diesem Geschäft Geinis Zeigefinger beträchtlich heller wurde. Ihrer
wurde rosig, und der von Gauni blieb, wie er war.
Daß kurz darauf irgendwo vor den Buden ein Tumult entstand, daß nach
der Polizei gerufen wurde, daß Gauni fehlte - dies alles merkte Sibylle
erst, als Geini ihr zuraunte: »Ich glaube, sie haben den Gauni beim Stehlen
erwischt!« Sie ließ sich vom Freund voranschieben. Bald standen sie unter
der gaffenden Menge und sahen Gauni, der von einem Ordnungshüter mit Schnauzbart
festgehalten wurde.
»Was ist los?« wollte der Polizist wissen.
»Er hat gestohlen!« schrie ein dicker Mann, »sehen Sie, ein Kuchenherz
hat er noch in der Hand! Hier!«
»Ist das wahr?« erkundigte sich der Polizist, und Gauni heulte los:
»Ja«, heulte er, »aber ich hatte solchen Hunger, und es riecht hier so
gut, und ich habe doch kein Geld, und ein einziges Kuchenherz, nur eins,
und hier sind so viele ...«
Nun waren damals und zu allen Zeiten die reichen Leute recht geizig,
und der Lebzelter war ein reicher Mann. Aber ... wollte er nicht als hartherzig
in unsere Geschichte eingehen, oder ist es so, daß ein Mann, der den ganzen,
lieben lag Kuchenherzen bäckt und Kuchenpferdchen und Honigkuchenpuppen
und süße Pflastersteine und Mandelplätzchen, ein Mann, der schon von weitem
nach Honig riecht, daß also ein solcher Mann ganz einfach nicht anders
kann, als einem hungrigen Buben zu einem gestohlenen Kuchenherz auch noch
ein Kuchenpferd zu schenken, ein über und über mit dickem, weiß-rosa Zuckerguß
verziertes Kuchenpferd ?
Der Lebkuchenbäcker also schenkte Gauni noch ein Kuchenpferd zum gestohlenen
Lebkuchenherz hinzu.
Erleichtert schnaufte der Polizist einmal unter seinem buschigen Schnauzbart
auf, sagte: »Das sollst du nicht mehr tun«, und beförderte den Gauni mit
einem sanften Fußtritt auf zehn Meter Abstand von der Honigkuchenbude.
Den Tonkuckuck in der Hand zu fühlen, glatt, rund, hineingeschmiegt
in die Handfläche, war ein Trost für Sibylle, die nicht wahrhaben wollte,
was sie soeben mitangesehen hatte. Sie wischte sozusagen wieder mit einem
nassen Lappen die Erinnerung an Gaunis Mißgeschick fort und redete sich
ein, daß alles nur ein Irrtum gewesen war und daß Gauni wirklich zaubern
konnte.
»Kannst du tatsächlich zaubern?« fragte sie ihn. »Natürlich kann ich
zaubern«, lachte er, »aber jetzt habe ich keine Lust mehr dazu, wenn ich
so verkannt werde. Kommt zu den Schaubuden.« Die drei Kinder verließen
die Verkaufsstände und trabten durch einen schmalen, gewölbten Durchgang,
der unter einem uralten Haus hindurch zu einem kleineren Platz führte.
Ganz hinten war hell der Ausgang zu sehen. Der Wind hatte Stroh, weggeworfenes
Papier, Bonbonhüllen, Strippen, Hühnerfedern und anderes zusammengewirbelt
und im Durchgang angehäuft.
Gelassen stiegen Geini, Gauni und Sibylle darüber hinweg und kamen
zu den Schießbuden. Die waren leicht zu finden, denn aus jeder einzelnen
ertönte schrille Musik, man hörte lautes Rufen, Knallen, Schreien. Über
alldem flatterten die bunten Wimpel, und der Seiltänzer turnte bereits
über alle Köpfe hinweg auf seinem auf und ab schwankenden Seil. Manchmal
schien es, als geriete er aus dem Gleichgewicht, dann schrien die Leute
auf, und die Frauen hielten sich die Hände vor den Mund. Die Augen hielten
sie sich nicht zu, denn trotz der Angst, die ihnen in der Kehle saß, wollten
sie es doch nicht verpassen, wenn er vielleicht abstürzte. Man bewunderte
ihn allgemein, weil er kein Schutznetz unter sein Seil aufgespannt, sondern
nur eine dünne Lage kleingeschnittenes Stroh aufs Pflaster gestreut hatte.
Wahrscheinlich hatte ihm das den Namen »Strohschneider« eingebracht.
Aber vielleicht war es auch sein Familienname.
Während Sibylle bei einer Schießbude zusah, wie die Leute auf Blechtiere
schössen, um Gipstiere zu gewinnen, drangen durch den allgemeinen Lärm
abgerissene Klänge von Drehorgelmusik an ihr Ohr. Behende kroch sie den
Erwachsenen, die an der Schießbude standen, unter den Beinen durch, da
niemand ihr Platz machen wollte. Dann suchte sie so lange, bis die ununterbrochen
wiederholte, traurige Weise sie zu dem Sänger Frido-lin führte.
Fridolin stand ruhig neben einem alten Kastanienbaum und horchte auf
die Schritte der Leute. Daran erkannte er, ob sie sich um ihn scharten,
um sein Lied anzuhören, oder ob sie weitergingen.
Sibylle hob ihren Kuckuck an die Lippen und blies hinein. Während der
Kuckucksruf erscholl, hatte Sibylle das dunkle Gefühl, als sei es derselbe
Ton, der auch aus der Drehorgel kam, dieselbe Klangfarbe. Als gehörten
ihr Tonvogel und die Drehorgel zusammen. Daß beide aus der gleichen Masse
entstanden waren, nur in anderen Arbeitsvorgängen, ahnte das kleine Mädchen
nicht. Das war auch nicht wichtig.
Sie blies: Kuckuck! Kuckuck! Fridolin horchte auf und wendete sich
in die Richtung, aus der der Ruf erklang.
Die Leute, die auf Fridolins Gesang warteten, murmelten ärgerlich,
weil sie Sibylles Pfeifen als störend empfanden.
Fridolin lächelte und antwortete Sibylle und ihrem Tonvogel mit ähnlichen
Klängen, die er aus seiner Drehorgel holte.
Plötzlich hatte Sibylle keine Angst mehr vor Fridolin. Daß sie gestern
vor ihm davongelaufen waren, hatte sie vergessen. In diesem Augenblick
wußte sie nur eins: Daß dieser Sänger, dessen Namen sie noch gar nicht
kannte, von dessen Herkunft sie keine Ahnung hatte, daß dieser Sänger genau
so war wie das, was in ihr drinnen, ganz tief drinnen, als wirklichste
Wirklichkeit lebte.
4. KAPITEL
Vom Lied des Sängers Fridolin, von einem neuen Unfug, den Gauni
anstellte, und wie Fridolin dadurch erst zu Schaden, dann zu Nutzen kam
Die Lieder, die Fridolin auf dem Jahrmarkt darbot, kamen nicht aus
seinem Herzen. Ihm lag eine andere Art von _____ Kunst, allem Lauten fremd.
Dennoch sang er alljährlich auf dem Jahrmarkt Lieder, die den Dienstmädchen
gefielen, die Waschfrauen und Köchinnen rührten, die all jene verstanden,
die Armut von daheim vertrieben hatte. Getrennt von allem, was ihnen bisher
in ihrem Dorf vertraut gewesen war, kamen diese Mädchen in die Stadt, um
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie schliefen in fensterlosen Hinterkammern,
bedienten fremde Leute, die sie »Herrschaft« nennen mußten, sehnten sich
nach ihrem Dorf, in dem sie nicht bleiben durften, weil der Hof der Eltern
nur einem der zahlreichen Geschwister vererbt werden konnte. Wehmütig dachten
sie an die Abend-63 stunden am Dorfbrunnen, an die alten Lieder und Bräuche,
die ihnen nicht mehr gehörten.
Fridolin wußte, was die vielen Dienstmädchen bewegte, die sich alljährlich
auf dem Jahrmarkt einfanden und seinem Gesang lauschten. Er sang ihnen
von fremden Mädchen vor, er schilderte ihnen fremdes Schicksal. Ihr seid
nicht allein. Immer hat es unglückliche Mädchen gegeben. Ich erzähle euch
davon in eurer Sprache, singe euch davon in Weisen, die ihr versteht. Weint
um das Los der fremden Mädchen, damit keiner euch nachsagen kann, ihr hättet
um euer eigenes Geschick geweint.
Leise leiernd bereitete er die Zuhörerschaft vor. Um ihn drängten sich
Dienstmädchen, Soldaten, Kammerzofen, Waschmägde, Köchinnen aus wohlhabenden
Häusern. Und Kinder, sehr viele Kinder.
Sibylle ließ sich von den Tönen des Leierkastens wie auf warmen Wellen
tragen. Wie unter einem Schlag zuckte sie zusammen, als sie plötzlich merkte,
wie starr Fridolin über die Menschenmenge hinwegsah. Keine Bewegung fing
seinen Blick ein, selbst dem Tanzbären, der unter dumpfen Trommelschlägen
von seinem Herrn an den Wartenden vorübergeführt wurde, sah er nicht nach.
Starr blickte er geradeaus, wie es Blinden eigen ist.
Sibylles Stimme klang belegt: »Ich glaube, er ist blind.«
Kalt kam Gaunis Antwort: »Meinetwegen. Andere sind auch blind. Aber
er scheint obendrein stumm zu sein.« Dann rief er: »Jetzt reicht uns aber
das langweilige Gedudel, Alter!« Die Menge sah zu Gauni hin, viele Köpfe
nickten. »Sing doch endlich!« riefen mehrere.
Das Klirren der Kette, die vom Nasenring des Tanzbären herabhing, entfernte
sich, das scheppernde Klingeln und Trommeln des Tambourins verlor sich.
Fridolins leise Klänge gewannen an Klarheit, an Lautstärke. »Ich will euch
heute eine neue, noch nie gehörte >Moritat< vorsingen, die traurige
Geschichte von einem Räuber und seiner Braut.«
Unter beifälligem Gemurmel begann Fridolin seinen Vortrag, wies dabei
auf das erste Bild seiner Rolle, die er am rissigen Stamm der alten Kastanie
befestigt hatte. Er sang mit lauter, klarer Stimme, die in Sibylle einen
seltsamen Zwiespalt zwischen Bewunderung und Mitleid hervorrief. Wäre er
doch nicht blind, mußte sie immer wieder denken, bis alles schwand und
sie nur noch zuhörte.
»An einem Bach«, sang Fridolin,
»in einem tiefen Tale, da saß ein Mädchen an einem Wasserfalle. Sie
war so schön, so schön wie Milch und Blut, von Herzen war sie einem Räuber
gut. Sie war so schön, so schön wie Milch und Blut, von Herzen war sie
einem Räuber gut.«
Mit der einen Hand drehte Fridolin den Hebel seiner Orgel, mit der
anderen ertastete er vorsichtig den Baumstamm, dann die Bilder, die daran
hingen. Das erste Bild stellte in dunklen Farben das tiefe Tal dar, durch
das ein schäumender Bach floß. Am Ufer saß ein schönes Mädchen auf einem
Stein. Seine Miene war traurig und sehnsüchtig.
Sibylle hörte die Worte, die Fridolin sang. Sie sah die Bilder an,
die Fridolin gemalt hatte, sah, wie seine Hand darauf zeigte. Sie kannte
schönere Bilder, dennoch gab es da etwas, das sie sehr bewegte. War es
Fridolins Stimme, war es die Drehorgel? War es das gespannte Warten der
Umstehenden auf die Fortsetzung der Moritat? Oder war es einfach Fridolin
selbst, der Sibylle beeindruckte ?
Ihr anfängliches Mitleid mit dem blinden Sänger ging in ein Staunen
über, und während Fridolin weitersang, packte es sie so, wie es ihr jedesmal
zumute war, bevor sie flog: Sie wurde ganz leicht, alle Angst fiel von
ihr ab, sie schwebte, sie flog ... nein, diesmal flog sie nicht, oder vielleicht
doch, sie wußte es nicht ganz genau, eins aber war sicher: Sie stand nicht
mehr unter der Kastanie. Sie kauerte am Bachesrand, ganz in der Nähe des
schönen, traurigen Mädchens, sie hörte es seufzen, hörte den Bach rauschen,
sah die Blumen am Ufer, es waren gelbe, große Dotterblumen, von denen einige
zu nahe am Wasser wuchsen, und die Wellen schlugen darüber hinweg und bewegten
sie. Es roch nach Wald, es war warm.
Wie durch einen Schleier drang zugleich der Gesang Fridolins in ihr
Bewußtsein. Aber es war gar nicht mehr Fridolin, der da sang, sondern es
war eine unbekannte, tiefe Männerstimme, die überraschend nahe klang:
»Du armes Mädchen, mich dauert deine Seele ...«
Aus dem Gebüsch brach ein Fremder. Zerlumpt, bis an die Zähne bewaffnet.
Seine Augen blitzten, er bewegte sich rasch und sicher. Mit festen Schritten
trat er zu dem Mädchen.
Sibylle erschrak. Wer war dieser Mann, was wollte er von dem Mädchen,
das ohnehin traurig genug war? Und sie selbst, war sie etwa auch von ihm
erblickt worden? Unendlich vorsichtig suchte Sibylle, sich hinter einem
Strauch zu verbergen.
Der Zerlumpte sah genau in ihre Richtung. Da hielt sie in ihrer Bewegung
inne, hielt ganz still. Es schien, als sähe er sie nicht, als schaute er
durch sie hindurch wie durch Glas.
Und er sang, vielleicht aber sang auch gar nicht er, sondern der halbblinde
Fridolin. Sibylle vermochte es nicht mehr zu unterscheiden:
»Du armes Mädchen, mich dauert deine Seele, denn ich muß fort in meine
Räuberhöhle, wo wir dereinst so glücklich wollten sein, jedoch es muß,
es muß geschieden sein.«
Das schöne Mädchen warf sich dem Mann in die Arme und weinte sehr laut.
Sibylle fühlte, daß ihre Augen sich auch mit Tränen füllten, ringsum hörte
sie Schneuzen, Seufzer. Wie, waren außer ihr auch andere noch in das »tiefe
Tal« gekommen, in dem sich Fridolins Moritat abspielte?
Wie aus einem Wasser tauchten Sibylles Blicke auf und fanden zurück
auf den Jahrmarkt. Sie stand mitten unter den Dienstmädchen und Waschmägden,
die Köchinnen waren dick und rochen nach Zwiebeln. Alle waren sehr traurig
und bemitleideten das arme Mädchen.
»Wo wir dereinst so glücklich wollten sein, jedoch es muß, es muß geschieden
sein«, wiederholte Fridolin.
Jetzt war es eindeutig Fridolin, der sang.
Wie ein Mißton erklang plötzlich eine kalte Männerstimme. Sibylle sah
einen älteren Herrn, der ein sehr gelehrtes Gesicht machte und verächtlich
zu der Dame an seiner Seite sagte: »Ein Lied, das man hierzulande >Moritat<
nennt; wie geschaffen für niedriges Volk, für Dienstboten und Waschweiber.
Laß uns gehen, meine Liebe. Ein solcher Gesang beleidigt die Ohren.«
Damit drängte er sich selbst und auch die Dame an seiner Seite an Fridolin
vorbei. Die reich gerafften Röcke der Frau rauschten ein wenig bei jedem
Schritt und schabten über das blaue Pflaster.
Fridolins Stimme legte sich wie eine kühlende Hand auf den Ärger, der
in Sibylle hochsteigen wollte, und führte sie zurück in das »tiefe Tal«,
wo der Zerlumpte, Bewaffnete seiner Liebsten einen Ring an den Finger steckte:
»Nimm diesen Ring, und sollte jemand fragen, so sprich, ein Räuber
habe ihn getragen, der dich geliebt bei Tag und auch bei Nacht und der
schon viele Menschen umgebracht. Der dich geliebt ...«
Lachen gluckerte auf.
Ein Junge kletterte grinsend am Stamm der Kastanie hoch, löste die
Bilder vom Nagel. Spöttisch ahmte er die Bewegungen des Sängers Frido-lin
nach, dann rutschte er wieder herunter und stahl sich mit der ganzen Bilderrolle
davon.
»Der dich geliebt bei Tag und auch bei Nacht, und der schon viele Menschen
umgebracht.«
Ahnungslos wies Fridolin auf den leeren Stamm. Auf die Stelle, wo er
die Bilder wußte, die bis vor wenigen Augenblicken noch dort gehangen hatten.
Die Dienstmädchen weinten nicht mehr. Sie genossen die unerwartete
Abwechslung, die sich ihnen bot. Ob man weinte, ob man lachte — war das
nicht einerlei? Wenn es nur etwas zu erleben gab, das einen aus dem öden
Alltag riß.
Fridolin merkte, daß seine Zuhörer nicht mehr bei der Sache waren.
Er hörte Kinder johlend davonlaufen, Dienstmädchen kichern. Was geschehen
war, wußte er nicht. Er wollte warten, bis die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer
sich ihm wieder zuwenden würde, und drehte ruhig seine Orgel.
Vor Sibylles Augen verschwamm das Bild des »tiefen Tales« und der beiden
Menschen, die voneinander Abschied nahmen. Schließlich sah sie nichts anderes
mehr als einen sehr dicken, schwarzen Strich, der sich von oben nach unten
über das Bild zog. Nach einer Weile erkannte sie in dem schwarzen Strich
den dunklen, rissigen Stamm der alten Kastanie. Fridolin zeigte hilflos
darauf und versuchte eine weitere Strophe, die aber von lautem Lachen übertönt
wurde. Seine Rechte betätigte den Hebel der Drehorgel so mutlos, daß ihr
anstelle der weichen Melodie nur ein Pfeifen und Jaulen entwich, wie man
es im Mai von den Dächern hört, wenn Katzen Hochzeit halten.
»Weshalb lacht ihr ...« Fridolins Stimme klang unsicher und enttäuscht.
Mit einer unvorsichtigen Bewegung entlockte er seinem Instrument ein weiteres
Heulen, auf das die Umstehenden mit lautem Jubel antworteten.
Betroffen suchte er seine Bilder, tastend am Stamm der Kastanie. Er
wollte sie herabnehmen und fortgehen. Das schien im Augenblick das einzige
zu sein, das ihm übriggeblieben war. Gedemütigt davongehen. Seine Hände
fanden den Stamm leer. Er tastete sich bis zu dem Nagel hoch. Da begriff
er, daß jemand ihm die Bilder entwendet, daß er die ganze Zeit über nur
auf die leere Baumrinde gewiesen hatte.
Lachend, zufrieden zerstreute sich die Menge.
Ebenso bereit wie anfangs zum Weinen, waren die Leute jetzt bereit
zum Lachen. Keiner achtete mehr auf den alten Mann, der sich schweigend
neben den Kastanienbaum gekauert hatte. In dem Hut zu seinen Füßen lagen
zwei billige Kupfer-71 münzen. Die grauen Haare hingen ihm wirr über die
blinden Augen.
Fridolin saß in sich versunken da und versuchte, das soeben Vorgefallene
zu begreifen. Er fand keinen Grund für das Entwenden seiner Bilder. Wahrscheinlich
hätte er Verständnis gezeigt, hätte ihm einer verraten, daß das ein Junge
aus bloßem Übermut getan hatte. Er hätte in ihm die Art seines Gefährten
Elmorck erkannt, hätte ihn zu verstehen gesucht.
Nun saß er da, an den Stamm gelehnt, die Augen starr geradeaus gerichtet.
Er streichelte seine alte Drehorgel, als sei sie ein krankes Tier. Als
sei die Schande ihr und nicht ihm selber widerfahren.
Vor Fridolin stand ein kleines Mädchen und sah ihn an.
Es war Sibylle. Sie war nicht mit den anderen davongegangen.
Geini war verschwunden.
Gauni tollte mit anderen Jungen. Er hieb ihnen die Bilderrolle, die
er kurz vorher vom Kastanienbaum genommen hatte, über die Köpfe.
Hatte er sie zu diesem Zweck gestohlen?
Keineswegs. Die Prügelei mit einer Anzahl fremder Jungen hatte sich
nur am Rande ergeben.
Dann also weshalb ?
Weshalb Gauni dem Alten die Rolle fortgenommen hatte, darüber dachte
er keinen Augenblick lang nach. Vielleicht hatte er nur sehen wollen, was
nachher geschah.
Er hatte nicht gesehen, was nachher geschah, denn er war mit der Rolle
weggerannt.
Hatte er die Bilder gestohlen, um die Aufmerksamkeit der Leute auf
sich zu ziehen?
Vielleicht deshalb.
Und was hatte er jetzt davon?
Nichts hatte er davon.
Gauni sah die Rolle an.
Sie war geknickt und verbeult, nachdem er sie als Waffe benutzt hatte.
Er schleuderte sie in den nächsten Straßengraben. Damit war der Fall für
ihn erledigt.
Sibylle hob ihren Tonkuckuck an den Mund und blies:
»Kuckuck!«
Fridolin horchte auf. Dann sagte er: »Du bist also nicht mit den anderen
fortgegangen.« Es war nicht ganz deutlich, ob er Sibylle oder ihren Kukkuck
meinte. Vielleicht war das auch nicht von Wichtigkeit.
»Ich heiße Sibylle«, sagte sie.
»Das ist ein schöner Name«, Fridolin redete ruhig und nickte. »Ich
heiße Fridolin.«
»Das ist auch ein schöner Name.« Wie zur Bestätigung ließ Sibylle ihren
Kuckuck rufen.
Fridolin horchte sehr aufmerksam zu, drehte dann vorsichtig am Hebel
seiner Drehorgel und entlockte ihr geschickt zwei Töne, die ebenso klangen.
Sibylle ließ ihren Tonvogel weiter rufen, und Fridolin antwortete ihr jedesmal
mit der Orgel. Beide Instrumente, das eine aus Ton, das andere aus Metall,
aus dem Schlamm der kleinen Vulkane gewonnen, hatten den gleichen warmen
Klang.
Dann sagte Sibylle:
»Du mußt dir neue Bilder malen, Fridolin.«
Fridolin schwieg.
Da rannte Sibylle nach Hause und brachte ihren Zeichenblock, ihren
Malkasten, ihre Pinsel. »Mal neue Bilder«, bat sie, »Fridolin, mal jetzt
neue Bilder, dann ist alles wieder gut.« Sie setzte sich zu ihm aufs Pflaster,
drückte ihm einen Pinsel in die Hand, stellte den Wassernapf vor ihn hin,
hielt ihm den Zeichenblock vor, drängend, fordernd.
»Ob ich das noch kann?« Fridolin strich sich über die Stirn. »Meine
Augen, weißt du, Sibylle, meine Augen sind so schlecht geworden in der
letzten Zeit.«
»Versuch es doch«, bat Sibylle. »Siehst du denn überhaupt nicht mehr?«
»Etwas sehe ich noch.«
»Mal dann das, was du siehst. Ich male auch immer nur das, was ich
sehe. Was ich vor mir sehe oder was ich in mir sehe.«
Das weiße Papier schimmerte, von der Sonne grell beschienen, in die
trüben Augen Fridolins hinein. Er fühlte den Pinsel in seiner Hand, er
roch die Farben im Malkasten. Jede Farbe war nicht nur Farbe, war bereits
ein Stück jener Bilder geworden, die vor Fridolins Denken standen. Rot
sah aus wie Blau, Grün wurde vor seinen trüben Augen zu nebligem Grau,
Braun vermischte sich in seinem Sehen mit Schwarz. Nur das Weiß des leeren
Papiers war da vor ihm und verlangte, zu einem Bild zu werden.
Aufs Geratewohl nahm er Farbe aus den Tiegeln.
Mit einer Bewegung, die etwas Feierliches an sich hatte, zog er langsam
den Pinsel über die weiße Fläche.
In einer anderen Farbe legte sich die nächste Linie neben die erste,
eine dritte zog sich daneben hin. Farbtropfen, die aus dem Pinsel fielen,
schlugen breit und von dünnen Strahlen umgeben auf die freien Flächen auf.
Fridolin dachte an alles, was in seinem Innern lebte.
Er hatte nicht im Sinn, seine verlorenen Bilder wieder zu malen. Dazu
eigneten sich weder Malwerkzeug noch seine Augen. Er dachte an Schönes,
um Schönes zu malen.
So entstanden wirr und bunt durcheinander, neben- und übereinanderlaufende
Linien, es ergaben sich aus den verfließenden Farben große, seltsam bunte
Flächen. Eigenartige Bilder entstanden, wie Sibylle noch nie welche gesehen
hatte, obwohl sie viele berühmte Gemälde aus den Büchern ihres Vaters und
auch aus dem Museum kannte.
Viele Leute schlenderten an ihnen vorbei. Es gab ein wogendes Auf und
Ab von Fußgängern, Kaleschen, Verkäufern, die ihre glitzernde Ware, Spangen,
Ringe und anderes mehr, aufTragebrettern vor den Leib geschnallt, mit lautem
Rufen zum Verkauf anboten. Niemand achtete aufFrido-lin und auf das kleine
Mädchen, das neben ihm auf dem Pflaster saß. Keiner blieb stehen, um ihm
zuzusehen. Vielleicht, weil seine Bilder weder lustig noch traurig noch
von lauter, schriller Musik begleitet waren.
Fridolin füllte Blatt um Blatt. Immer sicherer zog er den Pinsel über
die Fläche, immer eigenartiger wurden die Farben und die Formen.
Sibylle sah ihm zu. Manchmal blies sie ein wenig auf ihrem Tonkuckuck.
Die fertigen Blätter beschwerte sie mit Steinen, um sie rings um den Kastanienbaum
herum trocknen zu lassen. Wenn die Sonne darauf schien, leuchteten die
absonderlichen Linien zauberhaft auf.
Langsam verging der Tag, verliefen sich die Leute. Die Auswärtigen
mußten trachten, noch vor der Dunkelheit ihr Dorf zu erreichen, das Vieh
zu füttern, nach dem Rechten zu sehen. Die Dienstmädchen mußten das Abendbrot
richten, um ihre Herrschaft zufriedenzustellen. Die Kinder mußten ins Bett,
die Verkäufer begannen, ihre Buden abzubrechen. Fridolin malte.
Um ihn war es still und beinahe menschenleer geworden. Nur hin und
wieder kamen Leute vorbei.
Plötzlich rief jemand: »Aber das ist ja unerhört! Unwahrscheinlich!
Das ist ja allerhöchste Kunst, und wo? Hier, auf diesem armseilgen Jahrmarkt
Wer sind Sie, guter Mann?«
Fridolin gab keine Antwort.
»Wer ist der Mann?« wendete sich der Herr mit dem hohen Zylinder nun
an Sibylle. Weil aber Fridolin seinen Namen nicht genannt hatte, sagte
Sibylle auch nichts.
Mit fliegenden Rockschößen eilte der Mann davon und kehrte sehr bald
wieder; diesmal allerdings stieg er zusammen mit anderen Herren, alle mit
Monokeln und Hochzylindern, aus einer Kalesche aus. Es waren die Kunstverständigen
der Landesakademie.
Mit staunender Ehrfurcht hoben sie seine Bilder vom Pflaster auf, sprachen
darüber mit Worten, von denen Sibylle wenig verstand, und schließlich mußte
sie zusehen, wie sie Fridolin dazu brachten, mit ihnen davonzufahren. »Zur
Kunstakademie!« riefen sie dem Kutscher zu.
Sibylle blieb allein unter dem Kastanienbaum zurück. Sie wartete, bis
die Staubwolke sich legte, die die Räder des eleganten Fahrzeugs aufgewirbelt
hatten. Dann las sie ihren Malkasten vom Boden auf, suchte die Pinsel zusammen.
Der Wassernapf war umgefallen und hatte sein dickes, graues Malwasser aufs
Pflaster vergossen. Daneben lag die alte Drehorgel. Sibylle hob sie behutsam
auf, betrachtete sie von allen Seiten.
Die Pfeifen kannte sie. Daß aber das wurmstichige Gehäuse mit lauter
krummen, garstigen, troschähnlichen Männlein verziert war, das sah sie
erst jetzt. Ihr wurde ganz unbehaglich bei diesem Anblick.
Dennoch hing sie sich die Orgel um und trabte mit ihr zur Kunstakademie.
Man sollte sie dort Fri-dolin aushändigen. Sicher war er unruhig, solange
er seine kleine Orgel nicht wieder hatte. Obwohl sie ohne Verzierungen
schöner gewesen wäre, fand Sibylle.
Langsam verging der Tag.
Der Marktplatz, auf dem sich einige Stunden lang das laute, bunte Treiben
abgespielt hatte, lag leer und schmutzig da. Ein verspäteter Handwerker
brach seine Bude ab, Straßenkehrer stellten sich ein, Hunde suchten nach
Essenresten, ganze Scharen von Sperlingen pickten sich satt.
Vom Kirchendach flogen die Tauben scharenweise herunter und halfen
den Straßenkehrern beim Säubern des Platzes. Kam ihnen aber einer davon
mit seinem Besen zu nahe, so flogen sie mit streichendem Flügelschlag wieder
scharenweise aufs Kirchendach zurück.
In der Kunstakademie hatte man Fridolin auf einen Ehrenplatz gesetzt,
vor ihm stand ein Tablett mit Tee und Leckerbissen. Während er langsam
vom Tee trank, befragte man ihn über seine Auffassung, die Malerei betreffend.
Je undeutlicher er auf die Fragen antwortete, desto zufriedener schienen
die Kunstverständigen.
Einmal ging die Tür auf, es war eine hohe, braune Flügeltür mit Vorhängen
aus dunkelgrünem Samt, zu beiden Seiten mit goldenen Schnüren und schweren
Quasten gerafft, ein Diener trat leise ein und brachte Fridolin die alte
Drehorgel, legte sie vor ihn auf den Tisch, zog sich wieder zurück.
Fridolin strich über seine Orgel, nickte, horchte zur Straße. Durch
die hohen Fenster, die alle ernst geschlossen waren, drang Sibylles Kuckucksruf
nicht.
Ob Fridolin nicht, da die Ausbildungskurse an der Akademie gerade begännen,
eine Lehrstelle hier annehmen wolle ?
Fridolin schlug sie nicht aus.
Bald hatte er viele junge Schüler, die alle in die Geheimnisse seiner
Malkunst eingeführt werden wollten. Keiner von ihnen merkte, daß er sie
weniger im Malen als im Denken unterrichtete. Er lehrte sie, nicht nur
die Dinge selbst zu sehen, sondern die Hand dessen zu suchen, der sie hervorgebracht
hatte. Er brachte ihnen bei, das zu sehen, was die Dinge in sich trugen
und in welcher Beziehung sie zueinander standen.
Bald war Fridolin in aller Munde.
Seine Bilder wurden berühmt, seine Aussprüche wurden von Mund zu Mund
weitergegeben. Jedermann wollte ein Bild von ihm haben, man kaufte und
verkaufte sie, man versteigerte sie, man gab sie zu Wucherpreisen weiter.
Im Museum der Kleinen Stadt am Flußufer erhielt er einen Ehrenplatz
in der Gemäldegalerie.
Er malte immer leichter, immer mehr.
Nie malte er gedankenlos.
Er malte nicht Dinge, sondern Gedanken. Vor dem Tor seines Hauses standen
die Leute in langen Schlangen und warteten auf ein Gemälde. Schließlich
begnügten sie sich auch mit wenigen Strichen aus der Hand des Meisters,
die er, um nicht mehr so bedrängt zu werden, in Eile und Verwirrung auf
die Leinwand geworfen hatte.
Verstaubt lag die alte Drehorgel mit den Abbildungen des Gnoms Elmorck
zwischen zahllosen leeren Farbtöpfen.
5. KAPITEL Von den Racheplänen des Gnoms Elmorck
Das erste, was der alte, krumme Gnom tat, als er nach Wochen des Wartens
erkannte, daß Fridolin nicht nach Hause kehren würde: Er stieß zunächst
gekränkt, dann böse, schließlich wütend die sorgsam zwischen die Hausbalken
gestopften Moospolster hinaus, damit er wenigsten den Wind in seiner Einsamkeit
hörte, wenn der durch die Ritzen der Balkenwände sang und pfiff.
Unter uns, er hätte ja auch im Wald den Vögeln zuhören können, wenn
es ihm ringsum zu still war, oder, denken wir einmal nach, was in einem
Wald sonst noch zu hören ist: Der Wind rauscht und summt durch die Tannen,
und die Quelle dringt murmelnd und gluckernd aus der Erde und sucht ihren
Weg talwärts. Manchmal brechen ein Hirsch oder ein Reh durch das Gebüsch,
Äste knacken. Grunzende, wühlende Wildschweine hat es sicher in der Gegend
auch gegeben.
In einem Wald ist es niemals ganz still.
Aber Elmorck hatte kein Ohr dafür.
Später erinnerte er sich an Fridolins schmackhafte Speisen, und weil
keiner da war, der sie ihm gebracht hätte, stampfte er stundenlang mit
seinen krummen Beinchen auf dem Boden herum. Dabei hätte er nur in die
Vorratskammer greifen müssen, die der halbblinde Fridolin reichlich versorgt
hatte.
Als er erkannte, daß auch das Stampfen nichts half, rannte er von Vulkan
zu Vulkan und brachte alle zum Überlaufen. Was natürlich genauso nutzlos
war wie das Stampfen, weil es Fridolin nicht zurückbrachte.
Schließlich kauerte Elmorck sich neben seinen Lieblingsvulkan und döste
vor sich hin. Von Zeit zu Zeit schoß kalter Schlamm in Fontänen hoch, übergoß
ihn, klebte ihn am Boden fest, machte ihn im Laufe der Zeit zu einer grotesken
Figur aus eisengrauem Ton. Er sah etwa so aus wie die Gebilde, die sich
an den Kerzenwänden durch das herabtropfende Wachs formen.
Wochenlang verharrte er reglos.
Er vergaß seinen Hunger, er vergaß, die Vulkane zu schüren. Er brütete
über einem einzigen Gedanken: Wie er sich an der Stadt rächen konnte, die
am Fuße seines Berges lag und die ihm den einzigen Gefährten, den er je
besessen hatte, so unerwartet raubte.
Denn es bestand kein Zweifel:
Fridolin war, wie alljährlich, zum Jahrmarkt gegangen und war von irgendwelchen
Menschen aus unerfindlichen Gründen in der Stadt zurückgehalten worden.
Ob freiwillig, ob gezwungen ?
Die Tür der Hütte war offen stehen geblieben, der Wind schlug sie hin
und her. Der warme Vulkan, der bisher als Herd gedient hatte, erkaltete,
weil der Gnom Elmorck nicht mehr daran dachte, die wärmenden Krauter und
roten Steine einzulegen.
Füchse und Wölfe stahlen sich in die Vorratskammern und vertilgten
alles, was da an luftgeselchten Rehkeulen, geräuchertem Wildschweinschinken,
eingesalzenem Fleisch von Bergziegen hing.
Die Mäuse leerten den Steintopf, den Fridolin in langer, mühevoller
Arbeit mit wohlschmeckendem Eichelmehl gefüllt hatte; Murmeltiere und Hamster
schleppten die getrockneten Suppenwurzeln zu ihrer Brut.
Den Gnom Elmorck scherte das alles nicht mehr. Zwar wußte er Fridolins
Kochkünste zu schätzen, konnte aber ebensogut auch jahrelang ohne Nahrung
auskommen.
Sein ganzes Denken war jetzt auf Rache gerichtet. Die Stadt, die seinen
Freund für sich behalten hatte, mußte vom Erdboden verschwinden.
Er beschloß, durch wildes Stochern die Vulkane zum Übersprudeln zu
bringen und dann den überfließenden kalten Schlamm zur Quelle zu leiten.
Anstelle des glasklaren Wassers sollte sich der giftige Schlamm als träge,
lavaartige Masse zum Fluß wälzen. Dort sollte er langsam über die Ufer
treten und schließlich die Einwohner der Stadt, die Häuser und damit auch
den treulosen Freund überschwemmen und ersticken.
Monatelang hockte der Gnom Elmorck zusammengesunken vor seinem besten
Vulkan, umhüllt vom zähen, dunkelgrauen Schlamm. Er regte sich nicht. Er
genoß die Bilder der Vernichtung, die in seinem Kopf entstanden.
6. KAPITEL
Von Flugversuchen
Von dieser Wendung der Dinge ahnten die drei Freunde Geini, Gauni und
Si-bylle nicht das mindeste. Ihnen, und nicht nur ihnen, sondern allen
Bewohnern der Kleinen Stadt war es unbekannt, daß auf der höchsten Spitze
der Berge, die rings um die Stadt lagen, die Schlammvulkane brodelten und
kochten. Niemand ahnte etwas vom Dasein des Gnoms Elmorck oder davon, daß
Fridolin, der bereits in aller Munde war, etwas mit diesem froschähnlichen
Wesen gemein habe.
Sibylle hatte sich eines Tages zu Fridolin in die Werkstätte geschlichen,
hatte sich durch ein zaghaftes »Kuckuck« zu erkennen gegeben, und von da
an war sie ein täglicher Gast bei dem fast blinden Künstler. Stundenlang
saß sie neben ihm und sah zu, wie seine alten Hände die Leinwand verzauberten
und wundersame Gemälde darauf entstehen ließen.
Fridolin ermunterte Sibylle, ihm von Dingen zu erzählen, die sie ringsum
sah. Etwa vom Geflimmer des Sonnenlichts auf den Wellen des glasklaren
Flusses oder von den zarten Schatten, die die Blumen in der irdenen Vase
an die helle Wand warfen.
Bei diesen Besuchen lernte Sibylle sehen, und nicht nur sehen,
sondern auch denken.
Fridolin gab sich nie damit zufrieden, daß sie ihm die einzelnen Gegenstände
beschrieb. Sie mußte immer Zusammenhänge herausfinden, ob also das Grün
des glasierten Tonkruges leuchtender würde, wenn gelbe Blumen darin standen,
oder erst, wenn sie ihn vor dunkelblauen Vorhang stellte. Ob die Blätter
der Birke vor dem Haus durch das grelle Licht der Sonne schwarz oder eher
durchscheinend würden. Ob das Feuer im Küchenherd in der Dämmerung rot
und am Tag gelb war und wie die Farben seines beklecksten Malerkittels
aufleuchteten, wenn er das Ofentürchen öffnete, um einen Scheit Holz nachzulegen.
Sibylle liebte es über alles, bei Fridolin zu sitzen und über all dies
nachzudenken. Manchmal blies sie ihm auch auf ihrem Tonkuckuck vor, während
er malte. Den Kuckuck hatte sie immer bei sich, trug ihn in der Hand, so
daß es aussah, als hielte sie sich daran fest.
So verbrachte Sibylle ihre Zeit größtenteils bei Fridolin, fand sich
aber auch immer wieder bei ihren Freunden am Flußufer ein. Dort erinnerte
sie sich regelmäßig an die Ereignisse des letzten Jahrmarkts. Manchmal
stieg das Gefühl der Bewunderung für Gaunis Künste wieder in ihr auf. Alles
aber schien hundert Jahre weit zurückzuliegen.
Daß Sibylle oft bei den Spielen fehlte, wurde von Geini und Gauni zwar
bemerkt, aber nicht als störend empfunden. Dennoch kamen sie eines Tages,
als Sibylle wieder bei ihnen war, mit der Forderung:
»Bring uns das Fliegen bei, Sibylle!« Sibylle schwieg lange. Sie hatte
Mühe, mit ihren Gedanken in die Wirklichkeit zurückzufinden, denn sie hatte
gerade darüber nachgedacht, was schöner sei: das rasche Gleiten der Wellen
oder die langsame Bewegung der herabhängenden Äste der Trauerweide, unter
der sie saß. Endlich sagte sie: »Ich hatte euch das ja schon lange versprochen.«
»Wie machst du das ?« drängte Gauni. »Ich glaube, ich kann nur deshalb
fliegen, weil ich muß. Weil vor dem Haus die Hunde sitzen und mich beißen
wollen. Hätte ich keine Angst vor ihnen, könnte ich es wahrscheinlich nicht.
Aber ich muß mich zugleich auch sehr zu mir hinauf sehnen. Das ist es.«
Sie legte sich ins Gras zurück. Das Flimmern der Sonne auf den kleinen
Wellenkämmen des Flusses setzte sich vor ihren geschlossenen Augen fort,
wenn auch etwas blasser als in Wirklichkeit; dafür allerdings konnte sie
dem farblosen Strahlen dann auch kleine Farbkrönchen aufsetzen, wenn sie
wollte.
»Du mußt es uns beibringen!« Gaunis befehleri-scher Ton riß sie aus
ihren Träumen. Geinis Worte milderten den Schrecken: »Es wäre schön, Sibylle,
wenn wir es auch könnten.« Dann wurde seine Stimme bittend: »Bring es uns
doch bei.«
Da stand Sibylle auf. »Kommt«, sagte sie, »ich führe es euch einmal
langsam vor, und ihr macht mir alles genau nach.« Sie ging vors Haus, dort
erblickten sie die zottigen Wächter und hetzten sie sofort mit Geknurre
und drohend gefletschten Zähnen die alte Weide hinauf. Auf der Spitze breitete
Sibylle ganz einfach die Arme aus und flog ganz einfach auf ihren Balkon.
»Noch einmal«, verlangte Gauni. »Es scheint wirklich keine Kunst zu
sein. Jetzt laufe ich hinter dir drein und werde alles genau nachmachen.
Los!«
Sie gingen vors Haus, die Hunde wetzten heran, Sibylle sprang auf den
Weidenstamm und flog hinauf. Gauni rannte hinter ihr her, doch stieg er
nicht auf die Weide, sondern kletterte seine Leiter hinauf.
Zehnmal versuchten sie es, zehnmal mißlang es, obgleich es unendlich
einfach aussah.
Dann wollte Gauni nicht mehr weitermachen, er schob Geini vor. Geini
sagte: »Es ist eigentlich sehr einfach, ich habe ganz genau zugesehen.«
Sibylle zeigte es ihm also auch, aber keine zehnmal, sondern nur ein
einziges Mal, denn Geini war zwar bis zur Spitze der Weide emporgelangt,
obwohl seine Hunde ihn überhaupt nicht gehetzt hatten. Oben hatte er auch
die Arme ausgebreitet, es war ganz einfach gewesen, wirklich. Leider war
es ihm dann aber nicht mehr gelungen, sich in die Luft hinauf zu schwingen,
und er war wie ein Stein auf den Boden gefallen.
Ganz einfach.
Sofort brüllte er los, als stäke er am Spieß, denn sein linker Arm
war gebrochen, sein rechter Knöchel war verstaucht, und wer weiß, wie viele
Verletzungen er dazu noch hatte. Zudem waren seine Kleider zerrissen, und
so lag Geini nun zerkratzt und ziemlich dürftig bekleidet zwischen den
Gänseblümchen im Gras und brüllte laut.
Sibylle sah vom zweiten Stockwerk aus schweigend zu.
Gauni sah vom ersten Stockwerk aus schweigend zu.
Die zehn Köter sahen von ebener Erde aus schweigend zu.
Da kam die alte Pipa Rupa und trug Geini ins Haus, dabei murmelte sie
sorgenvoll vor sich hin.
Nach drei Stunden hatte Geinis Jammern aufgehört. Vielleicht war er
tot.
Er war aber nicht tot, er war nur eingeschlafen. Die alte Pipa Rupa
hatte ihn geschient, verbunden, hatte ihm Heilkräuter aufgelegt und auch
als Tee eingeflößt, hatte neben und über ihm Zaubersprüche aufgesagt und
hatte ihn in abgelegte Kleider seines nächstgrößeren Bruders gehüllt. Daraufhin
hatten die Schmerzen nachgelassen, und Geini war eingeschlafen.
Um diese Zeit trafen sich Gauni und Sibylle wieder hinter dem Haus
am Flußufer. Sie unterhielten sich im Flüsterton, aber nicht lange, weil
sie bald nicht mehr wußten, was sie sich noch zuflüstern konnten, wenn
der dritte Freund nicht dabei war. Wenn sie vor allem noch gar nicht wußten,
ob er überhaupt noch lebte.
An diesem Abend fragte Geinis Vater:
»Was war los ?«
»Ich wollte fliegen lernen«, berichtete Geini vom Bett her.
»Das kann kein Mensch«, erwiderte sein Vater und spuckte auf den Boden.
»Laß die Flausen und halte dich in Zukunft an unsere Bräuche.«
»Sibylle kann es aber«, beharrte Geini.
»Das ist i h r Geheimnis, und wir haben unser Geheimnis«, raunte Pipa
Rupa ihm ins Ohr. »Das wirst du eines Tages kennenlernen. Für heute nur
dies: Wer aus seinem Geheimnis entweicht, ist verloren.«
Am gleichen Abend fragte Gaunis Vater:
»Was war los ?«
»Wir wollten von Sibylle fliegen lernen«, berichtete Gauni.
»Das kann kein Mensch«, stellte Gaunis Vater, Herr Fanglinger, fest
und spuckte zum Unterschied von Geinis Vater nicht auf den Boden, weil
er etwas auf gute Manieren gab.
»Doch, Sibylle kann es«, beharrte Gauni. »Dann bring sie dazu, es dich
zu lehren. Stell dir vor, wir, in unserem Beruf, und fliegen können ...
nächtens ausgeraubte Häuser, ein rasches Entfliehen bei einem Bankraub
...«
»Geini ist aber von der Weide gefallen«, gab Gauni zu bedenken. »Und
du ?«
»Ich kam immer nur unsere Leiter hoch.« »Vielleicht besitzt Sibylle
Flügel ...«, grübelte der Vater.
»Oder einen Apparat ...«, dachte die Mutter und sagte es auch.
»Untersuch sie«, befahl der Vater. »Nein«, sagte der Sohn. »Tut ihr
das, wenn ihr wissen wollt, wie das mit Sibylles Fliegen ist.«
»Ja?« hauchten beide wie aus einem Munde. »Dann verlaß dich nur auf
uns. Wir erledigen das.«
Daraufhin schliefen sie beruhigt ein.
Am gleichen Abend fragte Sibylles Mutter:
»Was war los ?«
»Geini ist von der Weide gefallen«, berichtete Sibylle.
»Wolltest du ihm das Fliegen beibringen ?« Sibylle nickte. »Und Gauni
?«
»Der kam immer nur seine Leiter hoch.« »Nun ja«, gab die Mutter zu
bedenken, »zum Fliegen gehört eben mehr als nur Technik.« »Was gehört dazu
?« fragte Sibylle. Ihre Mutter gab darauf keine Antwort. Sie wußte: Wer
erst einmal darüber nachdachte und davon redete, der konnte es nachher
wahrscheinlich nicht mehr. Außerdem bereitete es ihr schon seit längerer
Zeit Sorgen, daß die anderen es eines Tages doch von Sibylle lernen könnten.
Und dann? Dann war ihre Abgeschiedenheit, ihre Sicherheit, ihr Zuhause
dahin. Und sie selber, der Sterngucker und Sibylle brauchten in diesem
Leben, in diesem gemeinsam bewohnten Haus ihres Lebens, die Ruhe und das
Fliegen dringender als das tägliche Brot.
»Du solltest dich lieber nicht mehr mit den Jungen abgeben«, schlug
sie der Tochter vor.
Sibylle widersprach heftig: »Sie sind aber meine Freunde!« Dann stampfte
sie einmal tüchtig mit dem Fuß auf den Boden, beruhigte sich aber sofort,
bat um Entschuldigung, bettelte: »Laß mich doch, bitte, Mama!« »Entscheide
selbst«, sagte ihre Mutter. Sibylle ging in ihren Spielwinkel, um darüber
nachzudenken. Je länger sie nachdachte, desto deutlicher sah sie ein, daß
man Freunde nicht nur gewinnen mußte, das war bei weitem nicht genug! Man
mußte sich auch sehr darum bemühen, sie zu behalten. Freunde zu haben:
das Schönste, was ihr bisher widerfahren war.
Allerdings gab es Unterschiede. Freund war nicht gleich Freund. Konnte
sie Geini und Gauni mit Fridolin vergleichen? Fridolin war mit nichts zu
vergleichen. Fridolin war Fridolin.
Geini und Gauni aber waren trotzdem auch Freunde. Und Sibylle war bereit,
sie zu behalten, und kostete es noch so viel Mühe.
7. KAPITEL
Von den blaßvioletten Glaskugeln, die auf dem Fluß geschwommen kamen
Viele Wochen waren vergangen, seit der Gnom Elmorck unter der immer
dicker werdenden Kruste aus langsam trock nendem Schlamm hockte und Rachepläne
ausbrütete. Aber auch nach Rache kann man nicht ewig sinnen - eines Tages
packt selbst den Bösesten das heulende Elend. Elmorck weinte.
Einer Schildkröte ähnlich saß er unter seinem Panzer, kroch überhaupt
nie ans Tageslicht, hatte keinen Hunger, fand keinen Schlaf. Es war ihm
einerlei, ob die Vulkane noch brodelten oder nicht; es kümmerte ihn wenig,
ob seine Hütte noch stand oder nicht.
Seine Gedanken kreisten nur um Fridolin, den einzigen Menschen, den
er liebte, und um die Sommerabende vor der Hütte beim weichen Spiel der
Drehorgel.
Um Fridolin weinte er, um die Abende vor der Hütte.
Seine Tränen quollen aus den violetten Augen, krochen träge und schwer
über die runzligen, herabhängenden Wangen, liefen ihm übers Doppelkinn,
bahnten sich einen Weg über die verschlammten Kleider und wuschen sich
einen Ausgang frei am Fuß der dicken, grotesken Hülle, unter der er saß.
Sie flössen den Berg hinab, fanden zur Quelle und strömten mitsamt
dem klaren Wasser zu Tal.
So erreichten sie auch die Stadt am Fuße des Berges.
Mit den Tränen, die der Gnom Elmorck weinte, war etwas Eigenartiges
geschehen. Sie lösten sich im Quellwasser nicht auf, vielmehr schwamm jede
einzelne Träne auf den Wellen wie eine glänzende Kugel, in deren Mitte
strahlend, tot und zugleich lebendig, undurchsichtig und doch durchscheinend,
ein blaßviolettes Auge zu erkennen war. Wenn die Sonne aufs Wasser schien,
ergab dies ein so ungewöhnliches Bild, daß die Einwohner der Kleinen Stadt
in Scharen zum Fluß strömten, um das Wunder zu sehen.
Gauni war schließlich der erste, der es wagte:
Er fischte eins der zahllosen schwimmenden Augen aus dem Fluß und trug
es nach Hause.
Als nichts geschah, als er weder erblindete noch eines plötzlichen
Todes starb, als auch der Blitz nicht in sein Haus einschlug, taten die
Leute es ihm nach. Bald gehörte es zum guten Ton, wenigstens eines der
seltsamen gläsernen Schmuckstücke im Haus auf der Kommode zu haben.
Es konnte nicht ausbleiben, daß Sibylle eines Tages auch für Fridolin
eine dieser Glaskugeln aus dem Fluß holte und sie ihm brachte.
Fridolin nahm sie entgegen wie ein Wunder. Nachdenklich hielt er sie
in der offenen Hand, wog sie, wendete sie, sah lange darauf. Ihr Schimmer
drang durch seine Blindheit, vor ihm war plötzlich alles lebendig, was
zu den violetten Augen gehörte: Elmorck, die Blockhütte, der vertraute
Wald, die vielen kleinen Schlammvulkane. Die toten Vögel, denen er in seinen
Bildwerken wieder Leben verlieh, die Quelle, die allmählich zum Fluß wurde,
dessen Wasser die Stadtbewohner tranken. Die alte Drehorgel mit dem vor
Jahren entstandenen Schmuckfries aus Abbildern El-morcks, die schon so
lange in einem Winkel verstaubte.
Als Fridolin immer noch schwieg und von Sibylle überhaupt keine Kenntnis
nahm, blies die ihm ein gekränktes »Kuckuck« ins rechte Ohr und trollte
sich.
8. KAPITEL
Von Sibylle, die den Gemüsemarkt in einen Naschmarkt verzaubern
lernte
Einige Tage nach seinem mißlungenen Flugversuch kam Geini wieder ans
Flußufer. Es tat ihm überhaupt nichts mehr weh. Die alte Pipa Rupa schien
eine besonders gute Arztin zu sein; vielleicht konnte sie auch zaubern,
was bei solchen alten Frauen, die immer noch Zöpfe trugen und in den Zöpfen
Goldstücke eingeflochten hatten, ja nicht ausgeschlossen ist.
Sibylle saß, seit sie gekränkt von Fridolin fortgelaufen war, auch
wieder öfter am Flußufer bei den Freunden. Sie wollte ihnen zeigen, wie
sehr sie die beiden mochte, hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil sie
den Jungen nie etwas von Fridolin erzählt und weil sie sie immer noch nicht
fliegen gelehrt hatte.
»Komm, Geini«, bot sie sich an, »willst du es nicht noch einmal versuchen?
Vielleicht lernst du es doch,'komm!«
Geini antwortete: »Meine Knochen waren ziemlich kaputt, Sibylle. Und
außerdem hat meine Großmutter mir gesagt, das sei nichts für uns.«
Sibylle verstand nichts davon, fühlte aber, daß etwas Wahres in Geinis
Antwort lag. Dann bot sie Gauni an: »Du vielleicht ?«
Gauni wollte nichts lieber als fliegen lernen, wagte es aber nicht,
nachdem er Geinis Sturz von der Weide gesehen hatte. Er schwieg eine Weile,
dann schüttelte er den Kopf. Nach fünf Minuten sagte er: »Wir langweilen
uns.« Ein plötzlicher Einfall ließ ihn aufspringen: »Geini, komm, ich zeige
dir, wie man Naschwerk zaubert! Mach nach!« Er führte ihm einige Fingerbewegungen
vor. Es erwies sich aber, daß Geinis Gelenke nach dem Sturz noch viel zu
steif waren.
»Mach nach!« forderte Gauni jetzt auch Sibylle auf.
Sibylle konnte die Bewegungen mit den Fingern nicht nur gut, sondern
noch viel besser als Gauni selbst ausführen. Die beiden Jungen wechselten
bedeutungsvolle Blicke. »Gut«, nickte Gauni. »Jahrmarkt ist heute zwar
keiner, aber ein gewöhnlicher Gemüsemarkt tut's auch. Kommt.«
Die drei Kinder trotteten auf den Marktplatz.
Geini trottete gleichgültig, er wußte, daß er heute nur Zuschauer war.
Gauni trottete erwartungsvoll, Sibylle hüpfte stolz einher. Eine Art Fieber
hatte sie gepackt, sie wollte den beiden Freunden beweisen, wie geschickt
sie war.
Auf dem Marktplatz lernte sie dann mit ungewöhnlicher Schnelligkeit
allerlei:
Wie man zu Geld kam:
Aus den Taschen anderer Leute.
Wie man zu einer Tafel Schokolade kam:
Aus dem Schaufenster einer Konditorei.
Wie man zu einem fixfertig bezahlten Würstchen kam:
Vom Pappteller eines Menschen weg, der es gerade gekauft hatte, und
zwar mitten aus dem gelben Senf heraus.
Sibylle war ungemein stolz, daß sie dies alles so rasend schnell gelernt
hatte.
Gauni war auch stolz, daß er es ihr so schnell beigebracht hatte.
Geini war nicht stolz, er war nur neidisch.
Nachher saßen sie noch eine Weile unter der Trauerweide am Flußufer.
Sibylle fühlte sich sehr müde und hatte eine irrsinnige Sehnsucht nach
ihrem Spielwinkel, wo es weder Geld noch Schokolade, noch Würstchen mit
Senf gab.
»Ich möchte jetzt nach Hause«, teilte sie den Jungen mit. Fort war
aller Triumph, fort der Stolz. Sie wollte nur noch nach oben. Sie zeigte
sich den zehn bissigen Hunden, kam dann auch mit Leichtigkeit den Weidenstamm
hoch, oben breitete sie die Arme aus, ganz einfach, und ... fiel wie ein
Sack herunter.
Ganz einfach.
Zunächst blieb sie im Gras liegen wie eine ausgerissene Blume.
Geini und Gauni sahen schweigend auf sie herab.
Die zehn Köter saßen auf ein paar Meter Abstand, sahen auch schweigend
zu ihr hin und hofften, daß Sibylle sie noch einmal herausfordern würde.
(Was beweist, daß sie ihrer Aufgabe zwar treu waren, daß sie ihr aber auch
die spielerische Seite abzugewinnen verstanden.)
Langsam erholte sich Sibylle von ihrer Benommenheit. Dann stand sie
mühsam auf und versuchte wieder, auf ihre gewohnte Weise nach Hause zu
gelangen. Sie fiel ein zweites Mal herunter, und diesmal tat sie sich ernsthaft
weh.
»Steig doch die Leiter hinauf«, schlug Geini vor. »Erlaubst du es ihr,
Gauni?« Damit gab er Sibylle auch den Tonkuckuck zurück, der ihr beim Sturz
aus der Hand gefallen war.
Mit trockenen Lippen bat Sibylle: »Nur dies eine Mal, Gauni, bitte.«
Er erlaubte es ihr.
Vom ersten Stock stieg sie dann matt und mit großer Mühe die Treppe
hinauf und gelangte auf diese Weise in die Küche.
Ihre Mutter stand am Herd. Sie sah Sibylle zur Küchentür hereinschleichen
und sagte gar nichts. Was hätte sie auch sagen können ? Wußte sie doch
genau, wann ein Kind nicht ins Haus hereinfliegt, sondern sich zur Küchentür
hereinstiehlt.
Sibylles Vater sagte auch nichts, aber wahrscheinlich nur, weil er
gerade schlief, sonst hätte er wahrscheinlich etwas zu sagen gehabt.
Sibylle schwieg auch.
Sie humpelte zu ihren Puppen, die ihre Mutter aus Lehm geformt und
denen sie Kleider aus Blütenblättern genäht hatte. Die Puppen hatten sich
bereits niedergelegt und lachten nicht, als Sibylle bei ihnen stand.
Dann trat Sibylle zu den drei Sternen, die ihr Vater vor Jahren aus
einem Spiralnebel geholt und seiner Tochter zum Spielen geschenkt hatte.
Die drei Sterne saßen wie zerzauste Hühner auf ihrer Stange und sahen aus,
als seien sie voller Staub.
Ein letzter Trost: der Tonkuckuck, den sie beim Sturz verloren, den
Geini ihr wiedergegeben hatte. Gut, daß er nicht zerbrochen war. Mit dem
Kuckuck in der feuchten. Fiebrigen Hand schlummerte Sibylle ein. Die Sonne
schien ins Zimmer, am Fenster summten ein paar Fliegen. Der Schlaf legte
sich über Sibylles Schmerzen wie eine warme Decke.
Zweimal war Sibylle von der Weide gefallen. Beim zweitenmal hatte sie
sich weh getan. Niemand wußte davon. Oder doch ?
Am späten Nachmittag kam nämlich Geini zu Besuch. »Meine Großmutter
will dich heilen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Sie hat zugesehen, wie du
plötzlich nicht mehr fliegen konntest. Warum kannst du es nicht mehr?«
In seiner Stimme lag Teilnahme und Neugier. Dadurch, daß Sibylle nicht
mehr fliegen konnte, war sie von einem Sokkel gefallen, auf dem sie in
den Augen der beiden Jungen gethront hatte, war geworden wie sie beide.
Dennoch lag in Geinis Stimme Mitleid, als er fragte: »Weshalb bist du eigentlich
heruntergefallen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sibylle.
»Meine Großmutter sagt, das käme von innen«, raunte er, um von Sibylles
Mutter nicht gehört zu werden. »Von innen, sagt sie, kommt das.«
Sibylle zog die Decke bis an den Hals: »Ich weiß nicht, was sie damit
sagen will.« Sie wußte es aber sehr gut. Sie wußte, daß nicht die äußere
Beschaffenheit es war, wodurch sie fliegen konnte, sondern ein innerer
Zustand der Echtheit: echt Angst haben. Echt Sehnsucht haben, aber nach
Echtem, wie es die Wohnung, der Spielwinkel war. Nach Dingen, die einem
echt gehörten. Keinesfalls nach Dingen, die anderen gehörten, wie zum Beispiel
die Würstchen auf dem Pappteller.
Geini wurde eindringlich: »Komm zu meiner Großmutter, sie nimmt dir
die Schmerzen weg!« versprach er.
Sibylle stand gequält aus ihrem Bett auf. Dann humpelten beide die
Treppe hinunter. Unten verscheuchte Geini die dreißig mehr oder weniger
zugeflogenen Hühner, die sich auf dem Treppengeländer bereits zum Schlafen
hingesetzt hatten, denn weder er noch Sibylle konnten die Treppe hinuntersteigen,
ohne sich am Geländer festzuhalten.
Weiter unten lagerten die zehn bissigen Köter. Sie taten Sibylle nichts,
weil die ja nicht ins Haus hereinwollte, sondern sich bereits darin befand.
Geinis Küche war ausgesprochen schwarz. Die Wände, die Decken, die
ehemals weißen Türen, alles. Das kam sicher vom offenen Feuer, das in der
Mitte der Küche auf dem recht mitgenommenen Fußboden schwelte.
Sibylle kam sich vor wie in einem Museum. Hier war doch wirklich alles
anders als bei gewöhnlichen Leuten! Pipa Rupa, majestätisch neben dem Feuer,
in den hängenden Zöpfen klirrende Goldmünzen, die vielen kleinen halbnackten
Kinder, überall die wuseligen, quiekenden Schweine, für die Geinis Vater
immer noch keine Ställe gebaut hatte, der beißende Rauch.
Vor Staunen riß Sibylle den Mund auf, gab aber keinen Laut von sich,
weil man sie zur Höflichkeit erzogen hatte. Dazu riß sie auch die Augen
weit auf; dies stand ihr so gut, daß die alte Pipa Rupa lächelte, was sie
sonst äußerst selten tat. Dabei klirrten die Goldmünzen aus ihren Zöpfen
ganz leise mit. Dies kam nun wieder Sibylle so zauberhaft schön vor, daß
sie alle Angst, alles Staunen vergaß und auch lächelte.
»Der Klang von Gold ist schön«, sagte Pipa Rupa mit unendlicher Ruhe
und mit einer Stimme, die sich wie eine Männerstimme anhörte. »Wichtiger
aber ist, unter freundlichen Sternen zu stehen.«
Sibylle nahm die Worte der alten Frau in sich auf. Sie verstand zwar
nicht, dennoch schienen sie ihr von großer Wichtigkeit. Dann streckte Pipa
Rupa ihre braunen, lederartigen Hände nach ihr aus. Behutsam entkleidete
sie das Kind, legte Sibylle auf etwas, das ein Bett sein sollte, einen
Haufen alter Kleider, der Geinis Eltern, vielleicht ihm selbst, als Liegestatt
diente. Ohne einen Augenblick zu zögern, begann Pipa Rupa genau jene Stellen
auf Sibylles zartem Kinderkörper leise zu streicheln, die am heftigsten
schmerzten. Bei jeder Bewegung klirrten die Goldstücke aus Pipa Rupas Zöpfen
wie von weitem mit. Während sie Sibylle
streichelte, murmelte die Alte fremdartige Wörter vor sich hin, von
denen Sibylle kein einziges verstand.
Dann zischte es so, als werfe jemand glühende Kohlen in einen Behälter
mit kaltem Wasser. Mit-tenhinein flüsterte Pipa Rupa: »... damit du unter
freundlichen Sternen stehst ...«
»Ich habe drei Sterne«, erzählte Sibylle. »Mein Vater hat sie für mich
aus einem dichten Sternhaufen herausgeklaubt, wo man ihr Fehlen nicht so
bemerkt. Wenn ich genug damit gespielt habe, wird er sie zurückbringen.
Damals, als er mir die Sterne gab, wollte ich sofort auch den Mond haben.«
Pipa Rupa erwiderte: »Das geht nicht. Was allen gehört, darf man nicht
einem einzelnen geben. Der Mond gehört allen.«
»So hat mein Vater mir damals auch geantwortet. Die Sterne jedenfalls,
die habe ich oben.«
»Du hast sie, und du hast sie doch nicht mehr. Und du weißt es.« Pipa
Rupa nickte. Sibylle wußte, daß die drei lebendigen Sterne ihr nicht mehr
gehörten, seit, vielleicht seit vorhin, als sie nicht mehr fliegen konnte.
Seit das mit dem Gemüsemarkt war, das mit den Würstchen. »Ob man etwas
hat oder ob man etwas nicht hat, kommt immer von innen. Immer kommt alles
von innen«, setzte Pipa Rupa fort und strich dem Mädchen weiter leise
über den mageren Rücken, auf dem man wie bei fast allen Kindern die Rippen
durch die Haut schimmern sah.
9. KAPITEL
Von einem folgenreichen Besuch Sibylles bei Familie Fanglinger
Als Sibylle hernach die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg, war es
bereits dunkel. Selten hatte sie bisher Gelegenheit gehabt, über das Stiegenhaus
zu ihrer Wohnung zu gelangen, wußte auch nicht, daß sich da ein Lichtschalter
befand, den man in der Dunkelheit anknipsen konnte. Durch die Fenster des
Stiegenhauses drang kaum ein Schimmer Mondlicht. Es mußte eine dunkle Nacht
sein, vielleicht ging der Mond heute später auf. Sibylle wußte das nicht
genau. Sie hatte bisher das bläuliche Licht des Mondes immer dann wahrgenommen,
wenn es halt schien, und es wäre ihr nie eingefallen, danach zu fragen,
wann der Mond ganz, halb oder nur als schmale Sichel am Nachthimmel zu
sehen war.
Das Treppensteigen fiel Sibylle nicht schwer. Alle Glieder gehorchten
leicht und schmerzlos. Ihre Hand tastete nach den blutigen Schürfungen
an den Knien. Sie waren verschwunden. Pipa Rupa hatte sie buchstäblich
mit ihrer lederbraunen, runzligen Hand weggenommen, wo sie doch noch vor
zwei Stunden geschmerzt hatten.
Mittlerweile war Sibylle vor Gaunis Wohnungstür im ersten Stock angelangt.
Sie horchte. Von allen Seiten drangen Geräusche zu ihr.
Von oben klang es vertraut nach allen Handgriffen, mit denen ihre Mutter
die Betten zum Schlafen richtete, nachher kamen männliche Schritte dazu.
Das war ihr Vater, der aufstand, seine Geräte aus ihren schönen Futteralen
nahm, sie zusammenschraubte und dann auf den Balkon rollte.
Die Nacht ist sehr dunkel, dachte Sibylle, aber der Himmel ist wolkenlos.
Vater wird heute gut arbeiten können, und morgen wird er sehr zufrieden
sein.
Von unten zog der Geruch von Rauch durch das Stiegenhaus. Sibylle schnupperte.
Mit einiger Anstrengung spürte sie auch den Duft der Pfeife Pipa Rupas
heraus, jener Pipa Rupa, die ihr seit zwei Stunden nicht mehr furchterregend
wie bisher, sondern überaus freundlich und bewundernswert erschien.
Die zehn Hunde verhielten sich still, es grunzte nur hin und wieder
ein Schwein im Schlaf. Jetzt gackerte auch eine Henne unter den Flügeln
hervor.
Wenn Sibylle sich ganz darauf einstellte, konnte sie das leise Klirren
der Goldmünzen aus Pipa Rupas Zöpfen vernehmen.
In der Finsternis, die im Stiegenhaus auf der Lauer lag, öffneten sich
Sibylles Sinne mehr als es sonst der Fall ist, wenn im Licht des Tages
alle Eindrücke zugleich auf einen einstürmen: Bilder, Töne, Bewegung, Wind,
Wärme oder Kälte, Gerüche. Hier, im stockfinsteren Stiegenhaus, sah
Sibylle nicht das Geringste. Doch nun öffneten sich ihre inneren Augen.
Sie sah Geinis schwarze Behausung. Da war die Küche, das Feuer, die
schlafenden kleinen Kinder. Die Liege aus Lumpen, Pipa Rupa. Endlich der
Panzerschrank auf dem Korridor, um den Geini einen weiten, ehrfürchtigen
Bogen gemacht hatte.
Dann war es Sibylle, als sähe sie nichts anderes mehr als den Panzerschrank,
fremd, lächerlich, eisern. Neben ihm erschien eine braune Dämmerung, die
von den Rändern her zur Wolke anwuchs, in deren dunkelster Mitte der Panzerschrank
stand. Seine Tür sprang plötzlich auf, gab den Blick frei in einen langen
Korridor, der sich, je länger er sich dahinzog, immer mehr einem roten
Glutlicht näherte. Ganz am Ende des dunklen Ganges brannte ein wildes Feuer,
davor tanzend, erschienen bewegliche Schemen, bald als schwarze Schatten,
bald als von Flammen beleuchtete Gestalten. Der Rhythmus einer dumpfen
Trommel drang in Sibylles Ohr, Schreie überlagerten die Trommelschläge,
verdichteten sich rasch zu einer fremdartigen Melodie. Violette Glut lag
auf den Gesichtern, Baumwurzeln hingen gespenstisch über den Tanzenden.
Aus dem Wirbel löste sich eine Frau, kam auf Sibylle zu. Weite Kittel wippten
bei jedem Schritt mit. Je mehr sich die Gestalt aus dem Lichtschein entfernte,
desto größer schien sie, desto schärfer wurden ihre Umrisse, desto deutlicher
erkannte Sibylle sie am Gang. Es war Pipa Rupa. An der Hand führte sie
Geini, den Freund. Die gläserne, bauchige Wand einer Kugel umgab beide,
schloß sie ein. Aus der Kugel heraus sagte Pipa Rupa: »Die Sterne seien
dir freundlich, Sibylle.«
Langsam verlöschte die rotgelbe Glut am Ende des Ganges. »Pipa Rupa«,
sagte Sibylle. Sie erhielt keine Antwort.
»Tritt heraus aus der Kugel, Pipa Rupa!«
»Wir dürfen nicht.« Hörte Sibylle dies wirklich? Dachte sie es nur
? »Wir dürfen nicht aus der Kugel heraus. Jeder muß in sich selbst bleiben.
Wir. Auch du und deine Eltern. Gauni ist ausgebrochen; nicht er, seine
Eltern, vor langer Zeit. Nun sieh, was aus ihnen geworden ist.«
»Hatten sie auch eine Kugel ?«
»Unsere, eure, seine. Einerlei. Sie hätten darin bleiben müssen. Sie
sind ausgebrochen. Wer aus seiner Kugel entweicht, ist verloren.«
Das Bild glühte noch einmal auf, verschwamm, zog sich in die Finsternis
des Stiegenhauses zurück. es war wieder vollkommen dunkel, als plötzlich
etwas auf Sibylle fiel gleich einem harten Brett!
Ein schmaler Lichtstreifen, unbarmherzig scharf wie die Schneide eines
frisch geschliffenen Messers drang aus einem Spalt von Gaunis Wohnungstür,
vor der Sibylle im Dunkeln stehengeblieben war. Entsetzt drehte sie sich
auf dem Absatz um und sah zu dem Spalt hin, aus dem das Licht gebrochen
war. Das Licht, es hätte mich beinahe mittendurch geschnitten, es schneidet,
weshalb schneidet Licht, ging es wirr durch ihren Kopf.
Dann wurde sie ruhiger, dachte, wie konnte ich nur so erschrecken,
es ist doch nur die Tür zu Gau-nis Wohnung aufgegangen, das Licht seiner
Wohnung erhellt den Korridor, seine junge, schöne Mutter steht in der Tür
und winkt mir mit einem goldberingten Finger einzutreten ?
»Guten Abend, Frau Fanglinger«, sagte Sibylle.
Dabei dachte sie, die Goldreifen an Frau Fang-lingers Arm klirren in
derselben Tonart wie die Münzen aus Pipa Rupas Zöpfen.
Der wunderbare Diamant an ihrem Finger wirft ebensolche Strahlen auf
mich wie meine drei Sterne, wenn sie übermütig sind.
Gaunis Mutter riecht nach den schönsten Blumen aus unserem Glashaus,
und aus der Wohnung strömen feine Rauchschwaden von Pfeifentabak, die an
jene aus Pipa Rupas ständig qualmender Pfeife erinnern.
»Komm herein, Sibylle«, sagte Gaunis Mutter freundlich in ihre Überlegungen
hinein und öffnete die Tür so weit, als sei Sibylle mindestens fünfmal
so dick, als sie es war.
Sibylle stand wie gebannt auf dem Treppenabsatz. Sie konnte nur denken:
Hier klirrt und glitzert es wie oben bei mir die Sterne, wie bei Pipa Rupa
die Münzen.
Hier riecht es wie oben bei mir die Blumen, wie bei Pipa Rupa der Rauch.
Was hält mich nur davon ab, hineinzugehen? Weshalb steht Gaunis Mutter
in der Mitte, in einer toten Mitte zwischen oben und unten?
»Bitte, komm herein«, sagte Gaunis Mutter ein zweites Mal.
Ich muß wohl der Einladung folgen und hineingehen, dachte Sibylle.
Denn Frau Fanglinger ist sehr freundlich zu mir, und hier wohnt Gauni,
mein Freund, den ich behalten will, der mich gelehrt hat, den Gemüsemarkt
in einen Naschmarkt zu verwandeln, und dem ich das Fliegen immer noch nicht
beigebracht habe, obwohl ich es ihm feierlich versprochen hatte.
»Guten Abend«, wiederholte Sibylle und trat artig in die Wohnung.
»Zieh dir die Schuhe aus«, war das erste, was sie hörte, und Gauni,
der Freund, rief es ihr zu. Nicht höhnisch, nicht böse. Er rief es so,
als wäre es die natürlichste Sache der Welt, sich beim Eintreten in ein
fremdes Haus die Schuhe auszuziehen. Er saß in einem Winkel und spielte
mit irgend etwas, kam nicht herbei, grinste nur und sagte dann noch:
»Bei uns macht man das so.«
Sibylle streifte ihre Sandalen ab und stand nun barfuß auf dem Parkett.
Spitz und steif stand der Saum ihres gelben Kleidchens rechts und links
von ihr ab. Die Arme hingen reglos an ihr herab, ihre Gedanken schwiegen.
Sie mußten wohl schweigen, weil hier alles laut auf sie einsprach. Hier
riefen und redeten die Dinge, die Möbel, die Bilder, die Vorhänge, die
schweren Teppiche. Sie redeten nicht. Sie schrieen förmlich. Der kristallene
Lüster an der Decke schrie: Sieh mich an, sieh mich doch an, laß die anderen!
Sieh, wie ich glitzere und welches Licht ich versprühe! Gebrochen in alle
sieben Regenbogenfarben lasse ich das Licht aus mir heraus, du wirst dich
nicht satt sehen können an mir. Dein blondes Haar leuchtet auf und erhält
einen blaßgrünen Schimmer, auf deinen Wangen spiegelt sich der Purpur meiner
Strahlen, dein gelbes, armseliges Kleidchen wird in meinem Licht zu einer
Blumenwiese.
Hier! rief der Spiegel, hier bin ich, laß dich nicht betören von den
anderen! Goldumrahmt, groß, vom Parkett bis zur Decke reiche ich! Dreimal
so groß, als du es bist, dürftest du sein, und du sähest dich doch vom
Kopf bis zu den Zehen! Und du sähest, wie herrlich du in dem Regen der
Farben dastehst, den der kristallene Leuchter über dich ausschüttet.
Nein, riefen die Gemälde, laß die Eitelkeiten, betrachte uns! Wir sind
edelste Malkunst aller Zeiten, wir sind vor mehreren hundert Jahren gemalt
worden, unsere Schöpfer wohnten im kalten Norden, im heißen Süden! Italien
und Flandern, diese Länder sind unsere Heimat. Komm, verweile bei uns.
Wir fliegen! jauchzten die Vorhänge aus duftigem Gewebe, der Wind spielt
mit uns, sieh uns zu, komm mit!
Laß die Vorhänge bei ihren Spielen mit dem Wind, sagten die Sessel
behäbig. Wir laden dich ein, setz dich auf uns, versinke in unseren grünen,
weichen, samtenen Polstern, träume, schlafe oder rechne, was du dir noch
alles anschaffen könntest ...
In einem dieser breiten Sessel ruhte Gaunis Vater. Er rauchte Pfeife
und las trotz der Tatsache, daß neben ihm eine wunderbare Stehlampe aus
Schmiedeeisen stand, weder in einem Buch noch in einer Zeitung.
Sibylle stand barfuß auf dem weichen Perserteppich. Ihre Fußsohlen
drückten sich wohlig, warm in die langen Wollfasern, aus denen er geknüpft
war. Seltsame Blumenranken, geometrische Flächen, Vögel, verworrene Linien
schlangen sich durch das Gewebe. Sibylle konnte sich daran nicht satt sehen.
Doch, was war das ? Langsam wurden die Ranken zu Wasseradern, die Flächen
zu Seen. Unter ihren Füßen fühlte es sich kalt und naß an. Befangen trat
Sibylle zur Seite, hier aber fühlte sie körnigen Grund, Unebenheiten, hartes
Riedgras, das sich in ihre Fußsohlen bohrte.
Frau Fanglinger hieß sie sich an den Tisch setzen, begann, sie freundlich
auszufragen. Sibylle war froh, sich setzen und so die Füße anheben zu können',
ohne daß jemand es sah, und auf diese Weise dem glitschigen Naß zu entrinnen.
Als ein Tablett mit Süßigkeiten vor sie hingestellt wurde, wagte sie
es noch einmal und berührte vorsichtig mit den Zehenspitzen den Teppich
unter dem Tisch. Nun war der nicht mehr bloß feucht, sondern es war Sibylle,
als träte sie in Pfützen.
Sie sprang auf, stellte sich bestürzt neben den Teppich aufs blanke
Parkett, sah mit weit offenen Augen zu, wie die Ranken des wunderbaren
Gewebes sich zu einem fließenden Wasser sammelten. Stellenweise traten
die Fluten schon über die Ufer, verflossen zu Lachen und moorigen Flächen.
Um die Moore herum wuchs altes, gelbes Schilf. Der Fluß strömte träge dahin,
wurde immer breiter. Hier stand Sibylle, jenseits des Flusses stand Gauni,
standen seine Eltern zunächst ruhig, dann gingen sie langsam triumphierend
zu einem Hügel, setzten sich dort auf einen prall gefüllten Koffer, aus
dem Schätze quollen. Auf Sibylles Seite ergoß sich der Fluß drohend über
das Ufer. Sibylle wollte schreien, streckte die Hände hilfesuchend aus,
hielt verzweifelt Ausschau nach einer Brücke. Die Vögel, die bis zuvor
noch die Ufer bevölkert hatten, wurden vom Wasser mitgerissen, schlugen
ertrinkend um sich. Wo gab es eine Brücke, einen Steg?
Über diesen Fluß führte keine Brücke.
Langsam zerrann das Bild.
Der Fluß schrumpfte wieder ein, vor ihr schlangen sich die Ranken über
den Teppich, die Vögel standen still, wo sie hineingewebt worden waren.
Alles war trocken; in ihr Bewußtsein schlich sich wieder die Empfindung
des seltsamen Wohlgeruchs, der in diesen Räumen lag.
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Sibylle und setzte sich blaß auf
ihren Platz zurück.
»Du wolltest dir wohl den schönen Teppich als Ganzes ansehen?« Herr
Fanglinger lächelte. »Er ist ein überaus teures, seltenes und altes Stück.
Wunderbar erhalten. Im Iran handgewebt. Vogelmuster mit reichen Blumenornamenten.
Hier, andere Symbole noch, die man äußerst selten findet. Alle Sachverständigen
sind wie verrückt nach diesem Teppich, die Museen wollen ihn haben. Aber
wir geben ihn nicht her.«
»Ja«, sagte Sibylle. »Nein. Natürlich nicht.« Dabei dachte sie, wann
war nur jemand hier, den Teppich zu sehen, es war doch nie einer hier,
kein Fremder darf ins Haus, und keiner ist je über die Leiter gekommen,
ich müßte ihn doch gesehen haben ...
»Du bist also die kleine Sibylle«, lächelte Herr Fanglinger ihre wirren
Gedanken fort.
»Nicht gerade die kleine, aber Sibylle«, antwortete Sibylle.
»Verzeih«, lenkte Herr Fanglinger ein, »du bist natürlich schon ein
großes Mädchen.«
Sibylle fühlte sich versöhnt und nickte.
Immer wieder glitt ihr Blick die Wände entlang, sie konnte sich nur
schwer aufs Gespräch konzentrieren. Sie sah die teuren Möbelstücke und
bedauerte, daheim nicht auch solche Kostbarkeiten in der Wohnung zu haben.
Dann aber erinnerte sie sich an die unzähligen Blumensträuße, die bei ihnen
auf allen Tischen, in allen Ecken standen, und das Bedauern verflog. Sie
sah sich noch einmal genau um. Nein, hier stand kein einziger Blumenstrauß,
wollte man von einer hölzernen, geschnitzten Vase absehen, in der einige
Kunstblumen aus gewachster Seide prangten.
»Wie geht es dir?« erkundigte sich Gaunis Mutter und schob ihr den
Teller mit den Süßigkeiten in Greifweite.
Sibylle fühlte, wie bei dieser Anteilnahme nicht nur ein Staunen, sondern
auch ein ganz unbegründeter Ärger in ihr hochstieg. Nun wohnten sie schon
seit einem Jahr oder länger in diesem Haus am Flußufer, und ausgerechnet
heute fiel es Gaunis Eltern ein, sich um ihr Wohlbefinden zu kümmern. »Wie
es mir geht?« fragte sie. »Gut geht es mir.«
»Ich meine«, lenkte Gaunis Mutter ein, »ob du nicht vielleicht einen
Arzt brauchst. Wir kennen einen ausgezeichneten Doktor.«
»Warum sollte ich denn einen Arzt brauchen ?« Sibylle fühlte den Ärger
im Hals sitzen, fühlte, wie er sich über böse Worte herausdrängen wollte.
Sie mühte sich, höflich und ruhig zu bleiben. Offenbar hatte sie völlig
vergessen, daß sie heute zweimal von der alten Weide gestürzt war, daß
also die Frage, ob sie einen Arzt brauchte, berechtigt war.
»Ich meine«, schaltete sich nun auch Gaunis Vater ins Gespräch, »ich
meine, weil du doch heute ... hm, hm ... ich glaube, gefallen bist, oder
so etwas.«
Sibylle vergaß gänzlich ihre gute Erziehung. »Oder so etwas!« schrie
sie. »Von der Weide bin ich gefallen, ganz einfach. Der Geini doch auch,
vor einigen Tagen erst. Haben Sie sich um den etwa auch gekümmert?«
»Davon wußten wir nichts«, erhielt sie zur Antwort. »Oder kann Geini
auch fliegen? Das ist uns neu.«
»Wieso wußten Sie dann von mir?« schrie Sibylle sehr ungehörig. Ihr
war, als stünde sie diesseits des trägen Stroms, mit nackten Füßen im schlammigen
Grund, jenseits stünde Gauni, stünden seine Eltern, zwischen ihnen aber
gab es keine Brücke.
Bei diesem Bild, das vor ihr aufstieg, wurde ihr Gesichtsausdruck leer,
ihr Sehen verschwamm. Sie sah nur den trägen Fluß, angefüllt mit Wasser,
und keine Brücke führte darüber hin.
Wie durch feuchten Nebel sah sie dann Herrn Fanglinger, als er mit
seiner Frage durch das Bild brach, das vor Sibylles Augen stand: »Aber
Sibylle, wie sollten wir denn von deinen Flugkünsten nichts wissen ? Wir
sehen dich doch immer wieder an unseren Fenstern vorbeischweben, Schön
machst du das, Kind. Und sag, möchtest du es deinem Freund Gauni nicht
auch beibringen ?« »Er kann es nicht lernen.« Das Sprechen bereitete Sibylle
große Schwierigkeiten. Auch fühlte sie sich Gauni gegenüber schuldig, weil
sie es ihm noch nicht beigebracht hatte. Dumpf empfand sie, daß der Fluß,
der zwischen ihnen lag, irgend etwas zu tun hatte mit der Unfähigkeit Gaunis,
sich in die Luft zu erheben. Frau Fanglinger kam mit einem Vorschlag:
»Wenn du meinst, daß Gauni es nicht kann, so lehre es dann uns, Sibylle.
Wir sind gute Sportler und geschickt in vielen Dingen.« Und, als Sibylle
sie abweisend ansah: »Wieviel sollen wir dir dafür zahlen, wenn du es uns
erklärst?«
Eine große Bestürzung bemächtigte sich des Mädchens. War ihr Fliegen
denn etwas, das sie um Geld verkaufen, hergeben konnte, war es so etwas?
War es nicht vielmehr etwas, das sie einfach konnte, weil es zu ihr gehörte
wie ihr aschblondes Haar, wie ihre lustigen Zehen, die sich jetzt verlegen
in die dicke Weichheit des Teppichs bohrten, des unerwartet trockenen Teppichs
? »Ich kann nicht«, sagte sie voller Scham. »Du willst nicht!« tobte jetzt
Gaunis Vater los, sprang aus seinem Sessel auf, kam drohend auf Sibylle
zu: »Dann also wollen wir uns die Sache selbst einmal ansehen.« Immer näher
kam er. Sibylle sprang entsetzt vom Stuhl, lief an die Wand, lehnte sich
daran, als wollte sie die Flügel, die sie nicht hatte, vor Bedrohung schützen.
Die Wand im Rücken, vielleicht half sie ihr, die Wand, die aus Pipa Rupas
dunkler Wohnung heraufwuchs, hier vorbeiwuchs, bis zu ihr hinaufreichte,
an der sie ihr Bettchen hatte, dieselbe Wand. Sibylle fühlte sie kühl auf
Schulterblättern, auf der einen Handfläche, die sie daran klebte, an den
Knöcheln der anderen Hand, mit der sie ihren Kuckuck festhielt. Sie atmete
hastig. Zwischendurch sagte sie: »Nein. Ich will nicht. Das heißt, ich
wollte es Gauni beibringen. Ab^er jetzt will ich nicht mehr. Fertig.«
»Dann wirst du eben dazu gezwungen werden!« lächelte Gaunis schöne
Mutter.
»Gauni«, bat Sibylle, »du bist mein Freund. Was haben deine Eltern
mit mir vor? Bist du nicht mein Freund ?«
Gauni sagte: »Was weiß ich, ob ich dein Freund bin oder nicht. Ich
weiß nur, daß wir jetzt endlich einmal wissen müssen, wie das mit deiner
Fliegerei zugeht. Zeig es uns im Guten, Sibylle, ob du nicht vielleicht
doch so eine Vorrichtung hast wie Flügel oder so etwas. Wir nehmen sie
dir nicht fort.«
»Nein«, sagte Sibylle. Der Strom war wieder da. Jetzt war er sehr breit
geworden. Der feuchte, übelriechende Dampf, der aus ihm hochstieg, nahm
ihr alle Klarheit der Gedanken. Mit beiden Händen umklammerte sie ihren
Tonkuckuck, als könnte ihr von dem eine Sicherheit kommen. Der Fluß wurde
breiter, sein Wasser floß über, umspielte ihre nackten Zehen. Herr Fanglinger
kam mit unendlich langsamen Schritten auf sie zu, seine Kleider wurden
nicht naß, als er durch das Wasser watete, er hatte auch keine große Mühe
damit, es war wohl sein eigener Fluß, er schien ihn zu kennen, schob sich
auseinander, wo er ging, schloß sich hinter ihm wieder.
Dann war auch Frau Fanglinger da, packte sie, warf sie auf die elegante
Couch. Bis dahin hatte Sibylle noch nie auf dunkelgrünem Samt gelegen.
Durch ihren Unwillen hindurch empfand sie den Unterschied des edlen Stoffes
zu jenem Haufen Lumpen bei Pipa Rupa. Heftig riß Frau Fanglinger an Sibylles
gelbem Kleidchen, fand die Druckknöpfe hinten am Halsausschnitt, zerrte
daran, streifte dann die Träger von den Schultern, während Herr Fanglinger
Sibylles wild strampelnde Beine packte.
Gauni hielt sich abseits. Er half weder seinen Eltern noch Sibylle.
Konnte er sich nicht entscheiden, wessen Partei er ergreifen sollte? Wollte
er keinen von ihnen verärgern ? Oder wußte er einfach nicht, welche Aufgabe
ihm bei dieser brutalen Untersuchung Sibylles zufiel ?
Frau Fanglinger strich mit ihrer schönen, weißen, gepflegten Hand den
Rücken Sibylles auf und ab. Sibylle schwieg. Sie hielt sich an ihrem Kuckuck
fest, erinnerte sich an die Hand der alten Pipa Rupa, die auch so über
ihren Rücken gestrichen hatte, vor zwei Stunden erst. Pipa Rupas Hand war
hart und braun gewesen, hatte vor Rauhheit leise geschabt, hatte nach Rauch
gerochen. Andere Hände: Fridolins Hand lag zuweilen auf ihrer Schulter,
wenn sie durch die Stadt gingen, lag dort wie ein schwerer Vogel, der ihr
etwas zu berichten hat. Mamas Hand, wie eine Blume, wie eine Schneeflocke.
Die Hand von Gaunis Mutter war leicht und gepflegt und duftete angenehm,
lastete aber auf Sibylles magerem Kinderkörper wie ein Kerkergitter. Ihre
Berührung brannte. Sibylle wehrte sich, schrie: »Lassen Sie mich doch endlich
in Ruhe, es geht doch gar nicht um Flügel, alles kommt immer von innen«,
plötzlich begriff sie dieses Wort, »Sie verstehen überhaupt nichts, und
jetzt will ich nach Hause, lassen Sie mich doch los!«
Sie entwand sich, fühlte, wie sie den trägen Strom überspringen konnte,
als wäre er ein lächerliches Rinnsal, sie blies dem verdutzten Gauni ein
schrilles Kuckuck ins Ohr und wußte plötzlich ganz deutlich, daß sie mit
den Leuten vom ersten Stock nicht das geringste gemeinsam hatte.
Mit einem Satz war sie auf dem Balkon, stieg auf die Brüstung, ganz
einfach, breitete die Arme aus, ganz, ganz einfach, und flog frei und glückselig
in die Nacht hinaus. Zuerst an Pipa Rupas Fenster vorbei, dann noch einige
weite Spiralen in die Höhe, beinahe bis an den Mond, der mittlerweile wie
ein heller Trost am Himmel aufgegangen war." Und dann schnell noch
ein wenig den Fluß entlang, in dem immer noch die violetten Kugeln schwammen
und so sonderbar im Mondlicht schimmerten...
10. KAPITEL Von Sibylles erster Begegnung mit dem Gnom Elmorck
Sibylle flog. Bezaubert schwebte sie über dem lila Leuchten, das ihr
aus dem Wasser entgegenkam. Stellenweise verhinderten weiße Nebelschwaden,
die über dem Fluß lagen, die Sicht; dann wieder schimmerten die lila Tränen
des Gnoms Elmorck blaß durch die Dünste der Flußaue.
In Sibylle war eine Spannung, als triebe sie etwas voran, als sei da
etwas, das^ihr befahl, weiter und immer weiter zu fliegen.
Sie verfolgte den Flußlauf bis an den Tannenwald. Ein warmer Regen
setzte ein, erfrischte sie, hörte dann wieder auf. Das Licht des höher
steigenden Mondes veränderte das Leuchten der violetten Tränen auf dem
Fluß ins Grünliche. Alles verlor sich im Unwirklichen, Blassen, alle Umrisse
wurden unscharf. Eine Welt des Traums, über der Sibylle dahinschwebte.'
Die würzige Luft des Tannenwaldes brachte sie wieder in die Wirklichkeit
zurück. Es ist wohl besser, überlegte sie, den Fluß nicht zu verlassen,
um an ihm entlang nachher den Heimweg leichter finden zu können.
Allmählich verlor der Fluß an Breite, wurde zu einem Flüßchen, schließlich
zu einem rauschenden, schäumenden Gebirgsbach. Zuletzt flog sie über eine
Lichtung und erkannte dort die kleine Quelle, den Ursprung jenes breiten
Wassers, das durch die Kleine Stadt floß.
In der Nähe der Quelle gewahrte Sibylle eine verfallene Blockhütte,
etwas höher die Kuppe der Schlammvulkane. Die kleinen Krater und Schlote,
ihr Brodeln und Überschäumen, ihre Unruhe, die im Mondlicht ins Bläuliche
schimmernden Blasen, die immer wieder hochquollen und dann zerplatzten,
bezauberten Sibylle.
Gefesselt von der Neuheit dieses Anblicks, fröhlich wegen des Spielerischen
der vielen kleinen Krater, flatterte sie von einem zum anderen. Bis die
daraus strömenden Giftgase ihr den Atem benahmen, die Augen verschleierten,
bis sie allen Schwung, alle Seligkeit des Fliegens verlor. So taumelte
sie über den Vulkanen hin und her wie eine Motte, die sich an einer Kerze
die Flügel versengt hat. Aus den Kratern stiegen die Dämpfe, hüllten sie
wie kalter, grauer Nebel ein. Ihr Flug wurde zum haltlosen Flattern, sie
war nahe daran, zu stürzen.
Der Tonkuckuck glitt ihr aus der Hand und fiel wie ein Stein in einen
der Schlote. Dort geriet er in das Auf und Ab der blubbernden Masse, die
Gase drangen in ihn ein, der wogende Schlamm ließ die Öffnung auf seiner
Brust bald offen, bald verdeckte er sie:
Kuckuckkuckuck! rief es ohne Unterbrechung aus dem Vulkan. Nacht und
Wind vervielfältigten den Klang seines Rufes.
Sibylle weinte auf. Sie ließ sich tiefer und tiefer sinken, wollte
versuchen, ihren Kuckuck aus dem Krater zu holen, war beinahe unten angekommen,
da brach plötzlich mit einem lauten unartikulierten Schrei eine zwergenhafte
Gestalt aus einem Klumpen getrockneten Schlamms hervor und stürzte sich
wütend auf den Schlot, in dem der Kuckuck versunken war und in einem fort
rief.
Dies Unerwartete schreckte Sibylle aus ihrer Betäubung. Das Mondlicht
war mittlerweile hell genug geworden, daß Sibylle in dem bösen Wesen die
Gestalt und das Gesicht dessen erkennen konnte, den ihr Freund Fridolin
als Schmuckfries auf seiner kleinen Drehorgel hatte.Sie stieß einen Schrei
aus, flatterte höher. Da erblickte sie der Gnom Elmorck. Seine Tränen versiegten.
Er packte seinen langen, schlammbesudelten Stecken und begann, nach Sibylle
zu schlagen, wie Buben Schmetterlinge oder Maikäfer jagen. Er sprang hinter
ihr drein, verfolgte ihren Flug im Zickzack, rutsche auf dem Schlamm aus,
fiel, arbeitete sich wieder hoch, schlug pausenlos nach ihr. Einmal traf
er sie am Arm. Entsetzen und Ekel raubten dem Kind beinahe das Bewußtsein.
Elmorck lachte, daß die Berge ringsum widerhallten, seine violetten
Augen leuchteten auf.
Der Tonkuckuck rief aus dem Krater immerzu, immerzu.
Ein Windstoß brachte Sibylle einen Atemzug frischer Luft. Sie stieß
in die Höhe und war gerettet. Taumelnd glitt sie durch die Nachtluft heimwärts.
Langsam fühlte sie sich besser, obwohl eine große Enttäuschung über Fridolin
in ihr aufstieg: mit diesem schrecklichen, häßlichen Wesen mußte er
etwas zu tun haben. Wie konnte das möglich sein?
Als sie von weitem ihr Haus am Flußufer sah, packte sie eine solche
Freude, daß sie es wimmernd und schreiend und lachend in einer schwungvollen
Spirale umflog; schließlich segelte sie am Fernrohr ihres Vaters vorbei
und durch das offenstehende Fenster direkt in ihr gutes altes, weißes Bettchen
hinein.
Kurz vor dem Einschlafen befand sich Sibylle dann dort, wo das Wissen
aufhört und der Traum beginnt. Todmüde von überstandener Angst, hellwach
vor Übermüdung, sah Sibylle den
Baum der Menschen.
In scharfen, schönen Umrissen hob er sich vom Weiß der gegenüberliegenden
Zimmerwand ab, leuchtete in satten Farben. In ihm waren die drei Stockwerke
ihres Hauses.
Unten lebten die Geinis, schwerfällig gingen sie einher, weil ihre
Füße mit tiefen, wirren Wurzeln im Erdreich verankert waren.
Oben, wo der Stamm ins Astwerk überging, gab es Fenster, helles Licht
strahlte aus ihnen. Ihr Vater saß im Geäst der Krone, Sterne im Haar. Ihre
Mutter pflegte die Früchte, die an den Ästen und Zweigen hingen.
Ganz dunkel und unbestimmt lag die Mitte des Baumes da, die Fenster
waren verriegelt. Das Mittelstück aber wand sich und reckte sich und wucherte
bedrohlich aus, als wollte es übergreifen, überhandnehmen, alles verschlingen.
Einmal erschien irgendwo auch Gauni, griff nach unten, packte den Geini
bei den Haaren und wollte ihn zu sich hinaufzerren, bis Sibylle schrie:
Mach dich frei, mach dich frei! Dann langte Gauni zu ihr hinauf, bekam
ihre Füße zu packen, zog, zog. Sie klammerte sich an einen Ast, wand sich
daran hoch, rief um Hilfe, und dann war auch schon Fridolin da, er kam
von oben und befreite sie. Bistdu auch hier oben, fragte Sibylle, und er
sagte: Ja, ich habe meinen Platz in der Spitze der Baumkrone. Der Baum
der Menschen trägt mich, damit ich singen kann. Und wo ist der andere,
fragte Sibylle und meinte Elmorck, und wieder stellte sich die Angst in
ihr ein, die sie oben auf der Bergkuppe empfunden hatte. Der Baum stand
wie ein Gemälde auf der weißen Wand. Sieh, sagte Frido-lin, da ist er.
Schließlich fand Sibylle nach langem Suchen den Gnom unter der Erde,
im Gewirr der Baumwurzeln verfangen, er hockte, grinsend und zugleich weinend
unter einem Stein.
11. KAPITEL
Was der Gnom Elmorck tat, nachdem Sibylle ihm entkommen war
Elmorck ließ den Stecken fallen. Er setzte sich nieder, wo er war,
und zitterte vor Erregung. So also sahen die Menschen aus, und fliegen
konnten sie. War es da ein Wunder, daß Fridolin sich von ihnen hatte umgarnen
lassen und es vorzog, ihr Gefährte zu werden, statt auf der Anhöhe der
Schlammvulkane neben einem mißgestalteten, froschähnlichen, schmutzigen
Gnom auszuharren und ihm die Wirtschaft zu führen ? Es war kein Wunder.
Hatte er selbst, Gnom Elmorck, nicht auch nach dem schönen, zartgegliederten,
feinen Wesen gehascht? Weshalb er das getan hatte, war ihm nicht klar.
Er wußte nur, daß er das Menschlein, das flügellos über seiner schlammigen
Welt umhergeschwirrt war, haben wollte und haben mußte.
Seine Einsamkeit und Verlassenheit ließ ihn wieder in Tränen ausbrechen.
Zäh flössen sie an ihm herunter, rollten den Abhang hinab, nahmen mitsamt
der Quelle den Weg talwärts. Seine Gedanken folgten ihnen. So fand er in
die Häuser der Menschen, die am Fuße seines Berges in der Kleinen Stadt
wohnten und die sich irgendwann solche blaßlila Glastränen als Zierat ins
Haus gebracht hatten.
Da sah er eine Mutter mit einem Säugling an der Brust.
In einem anderen Haus sah er einen Trinker im Rausch des Weins, selig
und unglücklich zugleich.
Er sah ein junges Ehepaar in seiner Umarmung und im Nebenhaus einen
Toten auf der Bahre.
Ein Mann saß vor seiner Petroleumlampe und schrieb. Auf dem Tisch lagen
ganze Stapel beschriebenen Papiers. Der Gänsekiel flog über die Blätter.
Elmorck ließ seine Gedanken suchend von Haus zu Haus wandern. Überall
dort hatte er Einblick, wo eine seiner Tränen im Haus war. Er sah sehr
vieles, fliegen aber wie das kleine, zarte Wesen geflogen war, sah er keinen
einzigen Menschen.
Stundenlang wanderte er so durch die Wohnungen der Stadt. Er suchte
nach Sibylle, aber Sibylle hatte keine Glasträne im Haus.
Das letzte, was Elmorck sah, war die Werkstätte Fridolins.
Im Raum standen Staffeleien, darauf seltsame Gemälde. Auch die alte,
vertraute Drehorgel war da.
Fridolin schlief. Neben ihm lag, als sei sie der Hand entglitten, eine
der Tränen Elmorcks, schimmernd, wie lebendig. Blind vor Wut und vor Sehnsucht
stürzte Elmorck sich auf die Vulkane und wühlte sie auf, bis sie überquollen.
Als durch die heftigen Bewegungen der lange Stecken brach, rührte er mit
den bloßen Händen weiter. Nur weiter so, nur weiter!
In seinem Herzen glühte der Haß gegen alles, was war.
Ununterbrochen klang es aus seinem besten Vulkan:
Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!
Das brachte ihn zur Verzweiflung.
Erstickte dieses Biest denn überhaupt nie ?
12. KAPITEL Von einer Überraschung, die Sibylles Vater erlebte
Da wäre nun etwas überaus Wichtiges zu erwähnen, bevor wir unsere Geschichte
weiterverfolgen. Als Sibylle, von der Bergkuppe der Schlammvulkane zurückgekehrt,
voller Freude ihr Haus umflog, saß ihr Vater wie allabendlich vor seinen
Fernrohren auf dem Balkon und suchte die Tiefen des Raums nach unbekannten
Nebeln, Sternen oder nach Spuren des Lebens ab.
Sein Gemüt war von tiefer Ruhe erfüllt. In der letzten Zeit hatte er
immer weniger gesprochen, hatte sich seinen Gedanken hingegeben. Ihm erschien
es unwahrscheinlich, daß unsere Erde die einzige Trägerin von Leben sein
sollte. Wunderbares hatte er schon gesehen: Er dachte an die gelbe Mondwüste,
die er durch sein Teleskop erblickt hatte, an die leuchtend blauviolett
gefärbten Sternwolken unserer Milchstraße, an den unwahrscheinlich grün
schimmernden Staubnebel des Orion. Immer wieder suchte er mit seinen Gläsern
diese Orte auf, verweilte in staunender Bewunderung davor, suchte Zusammenhänge
zu begreifen, zu berechnen.
War es da ein Wunder, daß er zutiefst erschrak, als sich ihm an diesem
bedeutungsvollen Abend ein knallgelbes Sternchen, das wie ein Kind aussah,
vor sein Objektiv schob, mitten durch den Andromedanebel flitzte, zum Greifen
nahe schien und doch nicht mehr einzufangen war? Das Teleskop, auf Entfernungen
von Lichtjahren eingestellt, verweigerte den Dienst bei einem gelben Sternchen,
das lautlos in nächster Nähe schwebte;
das freie Auge erkannte nicht mehr als zwei Zakken seines gelben Körpers,
die ums Haus verschwanden und von denen ein Paar niedlicher Kinderbeine
herabbaumelten.
Sibylles Vater stützte seine Stirn in die Handflächen, sein Herz klopfte.
War er nun dazu ausersehen, das erste lebende Wesen im All entdeckt zu
haben ?
Daß es seine eigene Tochter gewesen sein konnte, daran dachte der arme
Mann nicht im entferntesten. Denn erstens glaubte er sie zu dieser späten
Stunde in ihrem Bett. Zweitens kannte er sie nur im Schlafhemdchen, wenn
sie ihm abends den Gutenachtkuß gab und morgens verschlafen zublinzelte.
Ihre Kleider kannte er nicht, ihr gelbes, steifes Röckchen, das unten am
Saum mit zwei Zacken von ihrem dünnen Körper wegstand, hatte er nie gesehen.
Zudem beschäftigte ihn gerade zu dieser Zeit seine Theorie über das Leben
im All mehr als sonst.
Was also alles dazu beitrug, daß er seine eigene Tochter für einen
Boten aus den Tiefen des Alls hielt. Zudem war er bezaubert von der Art
ihres Fliegens. Ein solches Gleiten, eine derartige Anmut konnte nur bei
einem außerirdischen Wesen vorkommen. Davon war er überzeugt.Während er
noch zitternd und höchst erregt dasaß, die Stirn in die Hände gestützt,
schwirrte Sibylle lautlos an ihm vorbei, direkt in ihr gutes altes, weißes
Bettchen hinein.
Und als er fiebernd aufstand, um ihr als erste die aufregende Mitteilung
zu machen, fand er sie mit halbgeschlossenen Augen liegend, genau in diesem
Augenblick auf der Schwelle zwischen Wissen und Traum. Als sie den Baum
der Menschen sah, einer Menschheit, in der die Welt der Fanglin-gers sich
auszubreiten und alles in Besitz zu nehmen drohte. Einer Menschheit, die
nur dann gerettet werden konnte, wenn sie tiefe Wurzeln im Erdreich hatte
und ihre Sehnsucht bis über die Sterne reichte.
Mit dieser Erkenntnis schlief Sibylle vollends ein, vergaß sie bis
zum nächsten Tag, hatte sie dennoch für ihr ganzes Leben gewonnen.
Ihr Vater indessen setzte sich an seinen Schreibtisch, zündete eine
Petroleumlampe an und verfaßte einen aufregenden Bericht ans Ministerium
über ein unbekanntes Flugwesen von kindlicher, sternenhafter Gestalt, das
er heute gesichtet hatte.
Diesen Bericht faltete er feierlich zusammen, legte ihn in einen weißen
Umschlag, versiegelte ihn mit rotem Wachs und brachte ihn noch in der gleichen
Nacht zur Post.
13. KAPITEL
Vom Kampf, der sich zwischen Fridolin und Gnom Elmorck um Sibylle
abspielte
Am nächsten Morgen vermied Sibylle eine Begegnung mit den Freunden.
Sie schlief sehr lange, nachher blieb sie in ihrem Spielwinkel, versuchte
sich zu beschäftigen, wurde aber von wirren Gedanken hin und her gerissen.
Sibylle hatte sehr vieles zu überlegen. Alles, was ihr am Vortag zugestoßen
war, mußte irgendwie miteinander zusammenhängen. Viele Fragen stellten
sich ihr. Zum Beispiel, warum sie plötzlich nicht mehr hatte fliegen können,
nachdem sie von Gauni gelernt hatte, den Gemüsemarkt in einen Naschmarkt
zu verzaubern.
»Immer kommt alles von innen.« Dies Wort der alten Pipa Rupa
drängte sich auf. Fliegen kam von innen, dessen war sich Sibylle sicher,
das hatte sie den Fanglingers auch deutlich genug gesagt. Was aber hatte
das Verzaubern des Gemüsemarktes mit dem Fliegen zu tun? Weshalb hinderte
es sie daran ? Gehörte eine solche Art des Zauberns auch nach innen ?
Ja, wußte sie plötzlich, die gehörte auch nach innen. Vielleicht wurde
man anders davon. Schwerer. Belastet vielleicht.
Daß sie nach dem Arger bei Familie Fanglinger dann plötzlich wieder
fliegen konnte, schien ihre Vermutung zu bestätigen. Alles, was mit Gauni
und seinen Eltern zusammenhing, beschwerte sie. Der Baum der Menschen kam
ihr in Erinnerung und der mittlere Teil, der alles zu überwuchern drohte.
Wer waren die Fanglingers ?
Was taten sie, wovon lebten sie?
Wie kam es, daß sie so irrsinnig wohlhabend waren, obwohl sie nirgends
arbeiteten? Was hatte der Fluß zu bedeuten, der plötzlich auf dem schönen
Teppich zwischen Sibylle und ihnen gelegen hatte?
»Immer kommt alles von innen.«
Der Fluß, der Unterschied zwischen ihr und Gauni, zwischen ihren Eltern
und Gaunis Vater und Mutter. Der Unterschied zwischen Fanglingers und Pipa
Rupa. Ein Unterschied, der von außen auch leicht erkennbar war, von größerer
Bedeutung schien aber die innere Verschiedenheit zu sein. Weshalb hatten
die Hände von Gaunis Mutter, die schönen, goldberingten Hände, sie so gequält,
während Pipa Rupas harte, kratzende Hände sie geheilt hatten ?
»Immer kommt alles von innen.« Sibylle begriff immer besser,
was Pipa Rupa mit diesen Worten gemeint hatte.
Und daß sie nach der Untersuchung bei Fanglingers dann auf die Bergkuppe
der Schlammvulkane geraten war, daß sie dort beinahe von einem grausigen
Männlein eingefangen worden wäre, das hatte sie auch Gauni und seinen Eltern
zu verdanken. Wer aber das Männlein war und was die brodelnden Baumstümpfe
sollten, darauf fand Sibylle keine Antwort.
Am quälendsten war der Gedanke an die kleine Drehorgel. Wie war es
nur möglich, daß ihr Freund, der Künstler Fridolin, lauter Abbildungen
des bösartigen Zwergs auf seinem Instrument angebracht hatte ? Er mußte
ihn kennen, das stand fest. Er mußte auch etwas von ihm halten, hätte er
ihn sonst als ständigen Begleiter auf seinen Leierkasten gesetzt ?
Sibylle stand auf. Sie wollte Fridolin nach allem fragen.
Ihr gelbes steifes Kleidchen zog sie über, bat ihre Mama, die Druckknöpfe
hinten zu schließen, und lief zu Fridolin. Die Stelle am Arm, wo der Stecken
Elmorcks sie getroffen hatte, war blauschwarz, als sei sie schmutzig, schlammig
vielleicht. Sie hatte sie sorgfältig vor den Augen ihrer Mama verborgen.
Mit Wasser hatte sie sich nicht säubern lassen; jede Berührung tat weh.
Fridolin war nicht in seiner Werkstätte.
Sibylle fand ihn am Fluß, dort, wo er die breite Schleife macht, nachdem
er die Stadt verläßt. Fridolin saß im Ufergras, hinter alten Weiden und
Erlenbüschen verborgen. In der Hand hielt er eins jener durchsichtigen,
klaren Augen mit dem violetten Schimmer.
»Ich bin es, Sibylle«, sagte sie und setzte sich neben Fridolin ins
hohe Gras. »Kuckuck.«
»Weshalb sagst du das heute so, Sibylle ... so ...ich weiß nicht, wie
ich das nennen soll. Bisher hast du mir immer dein >Kuckuck< zur
Begrüßung geblasen?« Fridolins rechte Hand legte sich auf Sibylles Schulter
wie ein großer, schwerer Vogel. »Was ist mit dir, Sibylle?« Unter Fridolins
Berührung bebte der Körper des kleinen Mädchens.
»Ich habe lange nach dir gesucht, Fridolin«, sagte Sibylle anstelle
einer Antwort.
»Wolltest du wieder einmal die Drehorgel hören ?«
»Nein!« schrie Sibylle jetzt so laut, daß sie selbst erschrak. Sibylle
wußte plötzlich, daß sie Angst hatte. Sie schwieg eine Weile, sagte dann
etwas ruhiger: »Ich weiß nicht, ob ich deine Drehorgel überhaupt noch jemals
hören will.«
»Sibylle?«
Die Angst schlug über ihr zusammen. »Und dann dies schreckliche Auge,
tu es weg, Fridolin, tu es weg!« schrie sie und schlug es ihm so ungestüm
aus der Hand, daß es klatschend auf dem Wasser aufschlug. Sie begann heftig
zu zittern und weinte laut heraus.
Fridolin stand auf, riß das Mädchen am Arm hoch und fragte hart: »Was
weißt du, Sibylle? Sag sofort alles, was du weißt!«
Erschrocken suchte Sibylle, sich zu beherrschen, als sie ihren sanften,
gütigen Freund so ungeduldig sah. Sie stammelte: »Er hat nach mir mit einem
langen Stecken geschlagen, er hat mich getroffen, es tut weh, er wollte
mich fangen, und ich wäre beinahe gestorben, so schlecht war es mir dort
oben. Er hat so leuchtende Augen, Fridolin, und er kam aus einer runzligen
Schale gesprungen wie ein wilder Vogel aus einem Ei, und er lachte und
schlug nach mir.«
Die Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen, sie brach wieder in das
gequälte Weinen aus, das Kinder weinen, wenn sie sich ihrer ganzen Hilflosigkeit
bewußt werden.
Fridolin war blaß geworden.
»Berichte genau«, forderte er kurz.
Sibylle erzählte ihm alles. Wie sie fliegen gelernt hatte, wie sie
es plötzlich nicht mehr konnte und weshalb. Wie sie es dann wieder konnte,
als sie über Gauni und seine Eltern so wütend geworden war. Und dann von
ihrem Flug über den kahlen Berg, auf dem die brodelnden Baumstümpfe standen.
Und wie sie dort beinahe abgestürzt wäre, als sie ihren Kuckuck retten
wollte, wobei es ihr so schlecht geworden war.
»Die Giftgase«, sagte Fridolin.
»Und er?« Sibylles Stimme klang sehr heiser.
»Er heißt Elmorck«, antwortete Fridolin ganz leise, »und er ist mein
Bruder und Gefährte seit immer.«
Entgeistert sah Sibylle ihren alten Freund an. »Dein Bruder ...«, stammelte
sie, »wie kann er dein Bruder sein, er sieht so anders aus als du ...«
»Er sieht nicht nur anders aus, er i s t anders. Er haßt, und ich
liebe. Er wühlt im Schlamm, und ich singe. Er will den Tod, ich will das
Leben. Er hat übergroße, sehende Augen, und ich bin blind.«
»Hast du ihn gern ?«
»Ich liebe ihn«, gestand Fridolin. »Trotz allem. Wir gehören zusammen,
und niemand vermag uns zu trennen.«
»Erzähl mir bitte von ihm. Vielleicht kann ich ihn auch gern haben,
weil er dein Bruder ist.«
So begann Fridolin, der blinde Künstler, zu sprechen. Er berichtete
Sibylle von den kleinen Vulkanen und von den Unterirdischen, die Elmorck
aus ihrer Welt hinausgefeuert hatten, die aber jetzt, ohne daß Elmorck
etwas davon ahnte, den Schlamm, der aus der Erde quoll, mit wunderbaren
Stoffen anreicherten und ihm Kräfte verliehen, die niemand kannte.
Er erzählte Sibylle von jenem Gleiten wie auf Klängen, unter denen
er immer tiefer geschwebt war, bis er sich plötzlich neben Elmorck befunden
hatte.
Dann schilderte er Sibylle ihr gemeinsames Leben. Er sang ihr das Lied
des Windes vor, wenn er durch die hohen Tannen rauscht, und erwähnte auch
die Vögel, die in die Vulkane fielen, und wie er ihnen das Leben wiedergab.
Den Gnom Elmorck beschrieb er, wie er unruhig und bösartig zwischen
seinen Vulkanen hin und her lief, immer eifrig bemüht, sie am Brodeln zu
halten. Auch die guten Abende vergaß Fridolin nicht, wenn sie beide vor
der Hütte saßen und wenn der weiche Klang der Drehorgel Elmorcks Boshaftigkeit
in Güte verwandelte. »Sibylle«, fragte Fridolin plötzlich, »hörst du mir
zu, Sibylle?«
Das Mädchen neben ihm gab keine Antwort.
»Die alte Drehorgel, Sibylle, weißt du ?« fuhr der Alte eindringlich
fort, »die Drehorgel, deren Pfeifen den gleichen Klang haben wie dein tönerner
Kuckuck ...«
Sibylles Blick kam wie von weither zu ihm zurück. Sie sagte heiser
und hastig: »Er ruft immer noch im hohen Schlot, der Kuckuck aus Ton, hör,
hör! Und er sucht immer noch nach ihm und kann ihn nicht finden, er wühlt
mit den Händen danach, bis an die Ellbogen steckt er sie in den Krater
...«
»Was sagst du da ?« rief Fridolin entsetzt.
»Laß ihn doch rufen, Elmorck!« schrie Sibylle jetzt, ihre Stimme überschlug
sich, »laß ihn doch rufen, dann hört man wenigstens etwas auf diesem verfluchten,
kahlen Berg! Laß ihn rufen!«
»Sibylle!«
Fridolin legte seine Lippen ganz nahe an Sibylles Ohr. »Komm doch zu
dir. Sibylle! Wir sind ja nicht auf dem Berg der Schlammvulkane, wir sitzen
am Fluß unter einem Erlenbusch. Komm zu dir!«
»Komm zu mir, Sibylle!« sagte Elmorck, zog seine über und über verschlammten
Hände aus dem Krater, spreizte die Finger und trat dicht an das Mädchen
heran, »komm zu mir! Wir sind auf dem Berg der Schlammvulkane, du bist
hier oben bei mir, du sitzt nicht mehr unter dem Erlenbusch am Fluß ...«
»Ja«, sagte Sibylle, und ihre Augen wanderten entsetzt von Fridolin
zu Elmorck und von Elmorck zu Fridolin. »Ich glaube, ich bin hier, bei
dir, und bei dir, und auch dort ...«
»Bei mir bist du«, sagten Elmorck und Fridolin gleichzeitig, der eine
auf der Bergkuppe der Schlammvulkane, der andere unten am Fluß.
»Fridolin hat mir von dir erzählt«, flüsterte Sibylle, »und wenn er
mir etwas erzählt, dann bin ich dort; ja, ich bin bei dir, Elmorck.«
Ihr magerer Körper wurde schlaff. Fridolin hielt das Kind im Arm, streichelte
es. Er wußte: in diesem Augenblick war Elmorck stärker als er. Sibylle
hatte sich innerlich an den Ort seiner Erzählung versetzt. Noch einmal
versuchte er, Sibylle zurückzurufen: »Komm zu dir, Kind! Komm zurück an
den Fluß!«
Es gelang ihm nicht. Ihr ganzes Denken gehörte jetzt dem Unterirdischen.
Sibylles Augen glitten hin und her. Sie sahen nicht, was am Fluß geschah,
sie folgten den neckischen Sprüngen des Gnoms, der wie von Sinnen vor ihr
umhertanzte, der sie auslachte, der sich ihr näherte, ihr sagte:
»Du bist bei mir, und du mußt jetzt immer bei mir bleiben. Ich bin
ganz einsam, seit die Menschen mir meinen Bruder geraubt haben. Du bleibst
bei mir!«
»Ich bleibe bei dir«, sagte Fridolin ihr ins Ohr und versuchte verzweifelt,
sie zu erreichen, »und ich werde so lange bei dir bleiben, bis Elmorck
dich wieder freigibt.«
Wie eine Antwort klang es, als Elmorck drohte:
»Solange mein Bruder Fridolin nicht wiederkommt, gebe ich dich nicht
frei.«
»Solange mein Bruder Elmorck dich nicht freigibt«, versprach Fridolin
dem Kind in seinen Armen, »werde ich dich beschützen.«
»Ja«, hauchte Sibylle und wußte nicht, welchem der beiden Brüder sie
diese Antwort gab. Willenlos ließ sie sich von Elmorck in die Blockhütte
führen.
In demselben Augenblick nahm Fridolin sie bei der Hand, richtete sie
sanft auf und führte sie wie eine mechanische Puppe zu seiner Werkstatt.
Er wußte genau, daß Elmorck ihren Geist gefangengenommen hatte und ihn
als Geisel behalten würde und daß er, Fridolin, nur einen kleinen, schmalen,
willenlosen, zitternden Körper in sein Atelier brachte.
Elmorck legte Sibylle schwere Fesseln um die Handgelenke. »Damit du
mir nicht wieder davonfliegst, wie neulich«, höhnte er. »Frei wirst du
nur, wenn du aus eigener Entscheidung bei mir bleibst und mir dienst, wie
Fridolin mir gedient hat.«
Sibylle gab keine Antwort.
In diesem Augenblick beobachtete Fridolin, daß Sibylle sich so mühevoll
bewegte, als hingen Bleigewichte an ihren Händen und Füßen. »Was tut er
dir an, Sibylle ?« rief er verzweifelt.
Sibylle schwieg.
Sie konzentrierte sich auf Elmorck. Immer wieder sah sie ihn genau
an und suchte in seinen faltigen Zügen nach Ähnlichkeiten mit dem blinden
Fridolin, den sie beide liebten, sowohl sie als auch Elmorck. Aber sie
nahm weiter nichts wahr als eine verzerrte Fratze, über und über von Schlammspritzern
besudelt. Nur, daß er diese wundervollen Augen hatte ... Aber was nutzten
sie ihm, was nutzten sie ihr ?
Sie dachte an die trüben Augen ihres Freundes Fridolin, über denen
die Lider immer halb geschlossen waren, und wieviel wußte er dennoch von
den Dingen und vom Leben, trotz seiner Blindheit! Oder wußte er so viel,
weil er blind war ? Sie versuchte, sich Fridolin so zu vergegenwärtigen,
daß sie sich Elmorck entwinden konnte. In Abständen hörte sie die vertraute
Stimme Frido-lins ihren Namen rufen.
Aber sie konnte Elmorck nicht entrinnen. Er hatte volle Gewalt über
sie.
»Und jetzt kommt das Allerschönste!« schrie Elmorck begeistert und
rieb sich die Hände. »Jetzt lasse ich den Schlamm los! Ich lasse ihn auf
die Stadt los. Auf deine Stadt, Sibylle! Auf alle Häuser, auf alle Menschen.
Alles wird unter der tödlichen Flut begraben werden, wird unter ihr ersticken.
Auch Fridolin, weil er nicht mehr zurückkommen will. Aber ich brauche ihn
auch gar nicht mehr. Jetzt habe ich dich. Du bist schöner als er, und jünger
bist du. Du hast noch gute Augen. Du sollst mir helfen, die Vulkane zu
schüren. Du wirst es lernen. Du wirst mir auch schöne Lieder vorsingen,
wenn wir stille, laue Sommerabende haben. Ich brauche Fridolin nicht mehr.
Ich habe dich. Komm, laß dich streicheln.«
Er kam mit gespreizten Fingern auf Sibylle zu, an den Fingern hing
Schlamm. Die Ärmel schlugen, zu schweren Klumpen verklebt, um seine Handgelenke.
Ein übler Geruch ging von ihm aus.
Sibylle sah entsetzt, wie die Finger ihr immer näher kamen, wie sie
sich bewegten, gierig nach der Berührung ihres weichen Kindergesichts.
Sie schrie gellend auf. Elmorck erschrak und beugte sich zurück. Fridolin
erschrak und beugte sich über Sibylle. »Gut«, sagte der Gnom, »du wirst
dich an mich gewöhnen. Du wirst mich lieben lernen, sobald in der Stadt
unten alles tot ist und du außer mir keinen Menschen mehr hast.«
»Bitte ...«, brachte Sibylle mühsam hervor. »Ja?« Elmorck war voller
Bereitwilligkeit, in der Hoffnung darauf, Sibylle zu besitzen.
»Bitte, ich bitte dich, Elmorck, verschone die Stadt.«
»Möchtest du das ?« Elmorck kauerte sich grinsend neben das Mädchen
auf die bloße Erde. »Ja«, antwortete Sibylle, es klang wie ein Hauch. Nach
langem Überlegen sagte Elmorck:
»Ich werde die Stadt verschonen, weil du es dir wünschst. Aber du mußt
etwas dafür tun.«
»Gern!« rief Sibylle, »alles, was ich nur kann! Sag schnell, was ich
tun soll!«
Elmorck richtete den Blick seiner blassen Augen auf sie. Es wurde ihr
darunter so schwer, als läge sie unter einem Stein. Elmorck dachte, daß
er vielleicht ihre Zuneigung gewinnen könne, wenn er sie entscheiden ließe.
Er sagte:
»Ich will dir jetzt die Fesseln abnehmen. Du sollst selbst und ungezwungen
entscheiden, ob du bei mir bleibst oder ob du zurückgehen willst.« Während
er sprach, löste er die Ketten. »Bleibst du bei mir, so will ich die Stadt
verschonen. Gehst du fort, dann wehe dir, wehe Fridolin, wehe euch allen!«
Elmorck hatte sehr ernst und unmißverständlich gesprochen. Sibylle
dachte nach. Elmorck wiederholte seine Forderung:
»Wenn ich die Stadt verschonen soll, mußt du freiwillig bei mir bleiben.
Es soll dir gut gehen, Sibylle. Bitte, bleib.« Sibylle weinte.
»Ich weiß nicht, ob ich kann«, sagte sie. »Kannst du nicht, so wirst
du allein schuld sein am Tod aller. Deiner Eltern, deiner Freunde, deiner
Nachbarn, aller.« Elmorck lächelte.
Sibylle rieb sich die Gelenke, die schweren Fesseln hatten hart gedrückt.
Jetzt war sie frei, und doch weit weniger frei als vorhin, wo sie die Ketten
noch hatte.
Plötzlich, ganz unerwartet kam es über sie, daß ihr alles einerlei
war, daß sie nichts anderes war als ein kleines Kind, jeder Zweifel, alle
Überlegung war dahin, und sie tobte los: »Du bist ja blöd!« rief sie, als
hätte sie Geini oder Gauni vor sich, und sie hätten einen Streit, »natürlich
will ich nach Hause! Wie kannst du von mir verlangen, daß ich bei dir bleibe?
Ich will nach Hause, ich will nach Hause! Fertig!«
Elmorck lächelte.
Der tönerne Kuckuck rief immer noch aus dem wild brodelnden Vulkan.
Sibylle stöhnte so laut, daß es Fridolin durch Mark und Bein ging.
Er tastete sich zu seiner Drehorgel, hing sie sich um und begann zu spielen.
Ihr Klang erreichte Sibylles Bewußtsein.
»Die Drehorgel!« rief sie selig, »ich muß zu ihm! Zu Fridolin! Ich
muß nach Hause, du Scheusal! Ich gehöre zu dem, der singt, nicht zu einem,
der im Dreck wühlt!«
»Denk an die Stadt, Sibylle«, sagte Elmorck kalt.
»Ich denke an gar nichts mehr, ich will nach Hause!«
Sie sprang aus dem Gras auf, und es kam über sie wie dann, wenn Geinis
Hunde sie hetzten. Sie wußte nicht, ob sie flog oder ob sie nur ganz einfach
plötzlich wieder da war. Sie warf sich Fridolin in die Arme und schrie:
»Du bist gut! Du bist gut!«
Mit behutsamen Händen wischte Fridolin ihr die Kleider ab. »Hat er
mit Schlamm nach dir geworfen, als du ihm davonflogst?« fragte er ruhig.
»Und du hinkst, Sibylle, wo ist denn dein linker Schuh?« »Laß das, vielleicht
noch oben«, Sibylle keuchte, »er will die Stadt vernichten!« Was lag daran,
ob ihre Kleider sauber oder schmutzig waren, ob sie einen oder zwei Schuhe
anhatte ? »Er wird sie aber schonen, wenn ich zu ihm zurückgehe. Wenn du
es willst, Fridolin, dann gehe ich zu ihm zurück.«
»Man darf sich keiner Macht beugen, wenn sie im Unrecht ist«, sagte
Fridolin. »Komm, ich bringe dich zu deinen Eltern.«
14. KAPITEL Vom Schlamm, der über die Stadt kam
Von da an stand Fridolin Tag und Nacht am Flußufer neben dem Wohnhaus,
in dem Geini, Gauni und Sibylle daheim waren. Neben ihm harrte Pipa Rupa
aus, die Großmutter Geinis. Ob Pipa Rupa und Fridolin einander aus früheren
Zeiten kannten oder ob sie nur in den letzten Tagen zueinander gefunden
hatten, wußte niemand zu sagen.
Was der Stadt und ihren Einwohnern drohte, erkannte außer Sibylle und
Fridolin vielleicht nur noch Geinis Großmutter. Sonst niemand. Das Leben
der Stadt und der Menschen lief seinen gewohnten Gang, und es gab kein
einziges Anzeichen dafür, daß von irgendwoher eine Katastrophe im Anzug
war.
Geini fischte ahnungslos wie bisher im klaren Wasser des Flusses. Er
wußte nicht, daß der trübe, dicke Schlamm bereits unterwegs war, daß er
sich den Berg herabwälzte gleich einer todbringenden, alles erstickenden
grauen Lawine, daß er binnen weniger Tage die Stadt erreicht haben würde,
sich über die Ufer ergießen und alles Leben unter sich begraben würde.
Und in dem Augenblick, in dem das Unglück über die Stadt hereinbrechen
wird, in dem das klare Wasser des Flusses vom kalten Schlamm verdrängt
sein wird, in dem alle Fische ersticken werden, in diesem Augenblick wird
weder Geini noch jemand anders ahnen, daß das Unglück durch Sibylles Weigerung
kam, bei Elmorck zu bleiben.
Gauni und seine Eltern zeigten sich nicht. Sie waren verschwunden seit
dem Abend, an dem sie Sibylle auf brutale Weise das Geheimnis des Flie-gens
entreißen wollten und als Sibylle ihnen wie ein wilder kleiner Zugvogel
entschlüpft war. Hielten sie sich aus Scham verborgen oder aus Wut? Oder
waren sie nur auswärts beschäftigt und hatten den Zwischenfall vergessen
?
Sie hatten den Zwischenfall nicht vergessen. Sie saßen beieinander,
aßen nicht, tranken nicht, schliefen nicht. Sie berieten, wie sie Sibylle
auf ihre Seite hinüberziehen, zu einer der Ihren machen konnten.
Fliegen: das wollten die Fanglingers können, um auf leichte Weise zu
großem Besitz zu gelangen.
Nur wußten die Fanglingers nicht, daß man nur fliegen kann, wenn man
frei ist von aller Habgier.
Hätten sie es auch gewußt: Sie hätten es nicht verstanden.
Und dann kam eines Nachts der blauschwarze Schlamm.
Er wälzte sich im Flußbett heran, träge, unaufhörlich.
Die Fische flohen als silberne Masse vor ihm flußabwärts; Vögel, die
ihren gewohnten Weg über den Fluß nahmen, fielen tödlich vergiftet in den
dunklen Brei, der ständig höher stieg. Von Minute zu Minute wuchs die Gefahr.
Der Schlamm füllte bald das ganze Flußbett, kroch stellenweise stinkend
und eklig über die Ufer, ergoß sich in manche Keller. In tiefer gelegenen
Straßen brachte er den Verkehr zum Stocken.
Viele Leute wurden krank von den ausströmenden Gasen, manche erblindeten.
Fridolin stand schweigend am Ufer und dachte nach.
Neben ihm stand Pipa Rupa wie ein steinernes Standbild.
Das Grauen, die Angst der Menschen wurden beinahe unerträglich.
Von Panik gejagt, rannten sie umher, suchten sich in Sicherheit zu
bringen, berieten sich, ohne einen Ausweg finden zu können. In den Zeitungen
gab es jeden Tag neue Alarmmeldungen zu lesen. Es kamen Fotografen, stellten
ihre altmodischen Apparate auf Dreifüße, legten die mit Bromsilber bestrichenen
Glasplatten hinein, krochen unter ihr schwarzes Tuch und versuchten, die
Katastrophe für die Nachwelt festzuhalten. Viele Menschen verließen die
Stadt.
Nach drei Tagen sprach Fridolin zum erstenmal. Er bat Sibylle, den
Leuten, die die Flucht ergreifen wollten, eine Botschaft zu überbringen.
Die Botschaft lautete:
Beugt euch der Gefahr nicht, trachtet, sie zu überwinden. Bleibt
hier und helft retten. Bald ist es soweit.
Sibylle hatte ihnen dies nur zu sagen. Zurückhalten mußte sie keinen,
es wäre ihr auch nicht möglich gewesen.
Nachher stand Fridolin wieder mehrere Tage und Nächte reglos da, als
sei er zu einem alten, knorrigen Baum geworden, der seine Wurzeln im Flußufer
verankert hat. Pipa Rupa ließ ihn keinen Augenblick allein. Sie schwiegen
die ganze Zeit.
Manchmal gesellte sich Sibylle zu ihren beiden alten Freunden, aber
es wurde ihr derart übel beim Anblick und Geruch des Schlamms, der Tag
und Nacht unter ihrer Weide vorüberfloß, daß Pipa Rupa sie ins Haus schickte.
Schließlich war es soweit, daß das ganze Flußbett bis an den Rand mit
Elmorcks Schlamm gefüllt war. Die Gefahr war groß, daß er auch hier beim
neuen Wohnhaus über die Ufer treten würde. Es ist Zeit«, sagte Fridolin
unvermittelt. »Wir müssen handeln.«
»Nachher wirst du wohl zurückgehen«, lautete Pipa Rupas Antwort. Daraus
könnte man entnehmen, daß sie etwas von Fridolins Herkunft wußte.
»Ja, ich werde zurückgehen«, erwiderte Fridolin. »Nachher schon. Zuerst
aber haben wir hier zu tun.« In seine Augen kam ein Glanz; überhaupt schien
es, als läge seit einigen Tagen ein hellvioletter Hauch über ihnen, als
hielte er die Lider nicht mehr nur geschlossen.
»Dann wollen wir also beginnen«, lächelte Pipa Rupa und rief Geini
herbei: »Ab heute stehst du Fridolin zur Verfügung«, befahl sie. Wenn Großmutter
in dieser Weise sprach, gab es keinen Widerspruch.
Geini war obendrein froh, endlich etwas zu tun zu bekommen, da beim
heutigen Stand der Dinge an Fischen nicht zu denken war und außerdem Gauni
sich plötzlich nicht mehr blicken ließ.
Fridolin schickte den Jungen mit einer Nachricht zur Kunstakademie:
Alle Schüler sollten sich am Flußufer einfinden, mit ihrem gesamten Modelliergerät
ausgerüstet. Die Stadtväter wurden ersucht, die Jahrmarktbuden am Flußufer
aufstellen zu lassen; einige sollten Unterstände für Schlechtwetter werden,
in anderen sollten Eß-waren angeboten werden.
Pipa Rupa schürzte sich und stieg langsam, beinahe andächtig in den
Schlamm. Mit zärtlicher Bewegung nahm sie eine Handvoll davon heraus, knetete
ihn. Dabei überflog ein Lächeln ihre runzligen Züge.
»Er ist sehr gut«, sagte sie zu Fridolin, »er ist ausgezeichnet.« Arme
voll holte sie heraus, baute am Ufer mit einer Geschicklichkeit sondergleichen
einen niedrigen Ofen, wie Töpfer ihn haben. »In einigen Tagen wird er verwendbar
sein. Dann werden wir alles brennen können, was an Bildwerken hier entstehen
wird.«
Versonnen begann Fridolin zu arbeiten. Während er sich den grauen Ton
mit langem Kneten gefügig machte, stand vor seinen inneren Augen der schwarze,
vertraute Tannenwald, der die Blockhütte und die Kuppe der Schlammvulkane
umgab; er sah den Gnom Elmorck kichernd, eifrig, von Kopf bis Fuß von Schlamm
bespritzt, zwischen den Kratern einherhüpfen.
Wieder erkannte Fridolin, was sie beide unterschied :
Elmorck haßte, er selbst liebte. Elmorck wollte den Tod, er das Leben.
Elmorck wühlte im Schlamm, Fridolin formte daraus herrliche Bildwerke,
trotz seiner blinden Augen, mit Hilfe der tastenden Finger.
Dennoch, dies erkannte Fridolin ebenfalls, dennoch gehörten sie beide
zusammen. Eins waren sie und reichten durch Elmorck bis in die Tiefen der
Unterwelt und durch Fridolin bis über die Sterne.
Mit diesen Gedanken begann er zu modellieren. Unter seinen geschickten
Händen nahm der unförmige Körper seines Bruders immer wieder neu Gestalt
an. Er ließ ihn sitzen, in den Vulkanen rühren, stellte ihm auch einige
Krater hin," hohe Schlote, breite, niedrige Pfannen. Er legte ihn
wie nach einem Ausrutscher in den Schlamm, halb darin versunken, mit Armen
und Beinen zappelnd, lachend, froh. Er formte ihn schlafend, dann wieder
in zorniger Haltung und auch glücklich, wie er den Klängen der Drehorgel
lauschte, oder genießerisch futternd mit einer halben Rehkeule zwischen
den Zähnen.
Fridolin merkte nicht, daß die Schüler sich ver.-sammelt hatten, um
ihn herumstanden, ihm bewundernd und befremdet zugleich zusahen. Er wußte
nicht, daß in seine toten Augen ein Leuchten gekommen war, das während
der Arbeit immer tiefer aufglühte, einen violetten Schimmer ausstrahlte.
Als die Sterne am Himmel erschienen, war er fertig. Das Ufer war mit
den verschiedensten Abbildungen des Gnoms Elmorck übersät.
Von irgendwoher hörte man die Drehorgel. Einer der Schüler hatte sie
aus Fridolins Atelier mitgebracht und ließ sie erklingen.
Fridolin stand am Ufer neben einem der Bildnisse Elmorcks. Sein Gesicht
drückte Sehnsucht aus, seine Augen nahmen die Sterne wahr. Er fühlte sich
glücklich. Er sah.
Am nächsten Tag erschien Sibylle, ausgeruht, frisch wie der Morgen.
Da erblickte sie die Abbilder Elmorcks.
»Warum hast du ihn hergebracht!« schrie sie los. »Schaff ihn fort,
Fridolin, schaff ihn fort!« Sie hielt sich beide Augen mit den Fäusten
zu.
Fridolin löste zart ihr verkrampften Hände. »Man muß der Gefahr ins
Auge sehen, dann kann man ihr leichter begegnen«, sagte er zu ihr. »Schau
dir Elmorck an, Sibylle. So, wie du ihn hier hast, kann er dir nichts anhaben.
Du wirst merken, daß du nach einer Weile anders über ihn denkst.«
Nachgebend setzte sich Sibylle zu den kleinen Vulkanen neben eine der
freundlichen Abbildungen des Gnoms. Sie betrachtete sie lange. Es vergingen
Stunden. Langsam fühlte sie, wie ihre Angst wich, immer mehr dem Mitleid
Platz machte.
Von Zeit zu Zeit hob sie die Augen und beobachtete, was die anderen
taten.
Da standen Schüler in Gruppen beisammen und besprachen eine Arbeit.
Andere modellierten bereits schweigsam und hingegeben, einige kneteten
den Ton, um ihn so geschmeidig wie möglich zu machen.
Auch Fridolin arbeitete. Unter seinen Händen wuchs eine schlanke, hohe
Säule empor, seine Augen öffneten sich weiter und weiter, je höher sie
wurde. Wunderbare Ranken schlangen sich an ihr in die Höhe, seltsame Gestalten
belebten sie.
Daß der Abend kam und die Nacht, daß er allein am Flußufer zurückblieb,
wurde ihm nicht bewußt. Daß tags darauf seine Freunde und die Schüler kamen
und gingen, sah er nicht. Er arbeitete ohne Unterbrechung.
Nach einigen Tagen hatte die Säule eine unvorstellbare Höhe erreicht.
Niemand wußte, wie Fridolin es überhaupt zuwege brachte, ohne Gerüst in
einer solchen schwindelnden Höhe zu arbeiten. Sibylle allein ahnte, daß
er, der Wissende, der Denkende, genau wie sie fliegen konnte: besser, leichter,
höher als sie.
Die Säule strebte täglich der Vollendung zu und war doch nie vollendet.
Schlank wuchs sie aus dem Erdreich heraus, wurde langsam breiter, schnürte
sich wieder zusammen, atmete gleichsam ein und wieder aus.
Endlich wurde Fridolin von ihr entlassen, sank am Ufer nieder. Seine
Schüler, Sibylle, Pipa Rupa und sehr viele Kinder der Kleinen Stadt standen
wortlos um die Säule herum, eingefangen vom Zauber, der von ihr ausging,
der die Zeit vergessen ließ.
Da trat Pipa Rupa zur Säule. Alle anderen wichen zurück; etwas ging
von ihr aus, das jeden in seinen Bann schlug.
Über das alte Gesicht Pipa Rupas lief es wie ein flackerndes Feuer,
drückte Sehnsucht aus, wechselte in Verlangen, wurde zur Enttäuschung,
Bitte, Erfüllung, Glückseligkeit. Eine Musik, von der niemand wußte, woher
sie kam, umgab die Säule, ließ Pipa Rupas Körper ins Beben geraten. Ob
die dumpfen Klänge auch Worte enthielten oder nicht — keiner konnte das
sagen.
Plötzlich warf Pipa Rupa die Arme hoch, stieß einen lauten, befreiten
Schrei aus. Die Formen der Säule kamen auf sie zu, die Ausbuchtungen drängten
sie zurück, die Einschnürungen zogen sie wieder herbei. Das Rankenwerk
der Säule umgarnte sie, entließ sie wieder. Laut atmete sie ein und aus.
Ein und aus. Ihre Füße hoben sich in Stößen als stünde sie auf heißen Kohlen,
und plötzlich wurde sie um sich selbst gewirbelt, rankte sich an der Säule
empor, glitt wieder herab.
Mit geschlossenen Augen, den Kopf zurückgeworfen, gab Pipa Rupa sich
einem Tanz hin, der sie durch die Tänze aller Völker, aller Zeiten führte.
Bis sie, ausgestreckt, bis zur letzten Höhe der Säule reichte, dann
langsam wieder in sich zusammensank. Ein Ausdruck von Schmerz legte sich
über die Verklärung ihres Gesichts. Die gleitenden Gesten ihrer Arme gingen
in eckige Zuckungen über, der gequälte Ausdruck wurde unerträglich. Dann
war es so, als könnten ihre Füße sich nicht mehr vom Boden lösen, als seien
sie mit wirren Wurzeln im Erdreich verstrickt. Pipa Rupa sank zu Boden.
Um sie herum herrschte Schweigen. Alle waren im Banne ihres Tanzes, der
einer lodernden Flamme geglichen hatte.
Pipa Rupa erhob sich erst, als Fridolins Schüler einer nach dem anderen
nachdenklich wieder an ihre Arbeit gegangen waren, als die Kinder umherzuschwirren
begannen und immer lauter und unbekümmerter rufend und schreiend unter
Fridolins Leitung ihre kleinen Spielsachen formten.
15. KAPITEL Vom Aufblühen der Kleinen Stadt
Die Nachricht von der ganz besonders guten Zusammensetzung des Schlamms,
der im alten Flußbett der Kleinen Stadt träge dahinfloß, hatte sich im
ganzen Land herumgesprochen. Von weither kamen Töpfermeister, schlugen
flußabwärts von der Arbeitsstelle der Bildhauer ihr Lager auf und ließen
die Töpferscheibe schnurren. Unter ihren Händen hoben sich aus den unförmigen
Tonklumpen langsam die wundersamen Formen der Krüge, als wüchsen sie aus
der Kraft ihres eigenen Lebens. Als formten die feingliedrigen Finger der
Töpfer etwas, das nicht mehr von ihnen abhing.
Ziegelbrenner kamen auf Pferdewagen, stiegen in den Schlamm und befühlten
ihn. Beim ersten Kneten bereits erkannten sie ihn als erstklassiges Baumaterial.
Also war es kein Wunder, daß in kürzester Zeit am anderen Flußufer riesige
Ziegelbrennereien entstanden. Zahllose Arbeiter liefen umher, Fabrikherren
leiteten die Arbeit an, erteilten mit lauter Stimme Befehle. Straßen wurden
angelegt, auf denen bald lange Kolonnen von Pferdewagen heranfuhren, um
Ziegel aufzuladen. Im ganzen Land entstanden neue Häuser.
Bald waren auch die Doktoren und Apotheker zur Stelle. Mit Reagenzröhrchen
und Bunsenbrennern ausgestattet, untersuchten sie den Schlamm, stellten
fest, daß er sich zu Heilzwecken eignete. Man baute am Fluß Sanatorien
und Bäder für Rheumakranke, man behandelte Knochenbrüche, Rachitis, die
damals so weit verbreitete Migräne.
Daraufhin liefen auch ganze Scharen von Chemikern herbei. Ob der Schlamm
nicht etwa auch edle Metalle enthielte, ob er nicht reich sei an heilenden
Bestandteilen, ob die von ihm ausströmenden Gase nicht zu verwenden seien.
Alles fand man ihn ihm: Zinn, Gold, Silber, Blei, Grundbestandteile
für wichtige Medikamente, brennbares Gas, das man in Rohren in die Wohnungen
leitete. Als dies geschehen war, wußte Fri-dolin, daß niemand mehr erblinden
würde, wie es ihm zugestoßen war.
Während so die Kleine Stadt, ja das ganze Land aufblühte, rannte der
Gnom Elmorck auf der Kuppe der Schlammvulkane haßerfüllt hin und her, von
Krater zu Krater, wühlte und stocherte in allen und war überzeugt, daß
es nicht mehr lange dauern dürfte, bis alles Leben in der Kleinen Stadt
erstickt sei. Doch dort war längst aus Verzweiflung Hoffnung, aus Angst
Tatkraft, aus Entsetzen Dankbarkeit geworden. Fridolins Standhaftigkeit
hatte den Menschen das Vertrauen zurückgegeben, das ein jeder braucht,
wenn die eigenen Kräfte zu klein sind.
»Schau, Sibylle«, sagte Fridolin eines Tages, »schau, wie die Menschen
alle Furcht abgeworfen haben und wie sie sich das, was ihnen bisher Todesangst
einflößte, unterwerfen. Jetzt sind sie fröhlieh, weil sie gelernt haben,
mit ihrer Lage fertigzuwerden, ihr das' Beste abzugewinnen. Elmorck kann
ruhig noch jahrhundertelang seinen Schlamm zur Stadt hinunterschicken,
die Leute werden ihn zu verwenden wissen.« Er beugte sich zu Sibylle hinunter
und küßte sie. »Leb wohl, mein Kind«, sagte er. Seine Augen leuchteten
groß und sehend auf.
Sibylle ließ seine Hand nicht los: »Fridolin, Fridolin, was tust du,
gehst du fort? Bleib doch bei mir, Fridolin!«
»Meine Aufgabe ist zu Ende«, antwortete der alte Mann. »Ich muß gehen,
ich muß dorthin gehen, wo ich daheim bin.«
»Zu Elmorck ...«
»Ja, zu Elmorck, auf die Kuppe der kleinen Vulkane.«
»Gerade jetzt, wo du alles haben könntest, Fridolin? Ehre, Reichtum,
Berühmtheit ...«
»Das ist nicht meine Welt. Ich muß in meiner einsamen Blockhütte wohnen,
muß von der Arbeit meiner Hände leben, muß Stille um mich haben. Halte
mich nicht zurück, Sibylle. Leb wohl.«
Er schulterte seine kleine Drehorgel und ging langsam davon.
Außer Sibylle sah ihm niemand nach.
Und sie wagte auch nicht, ihm nachzulaufen. Sie sah ihm so lange nach,
bis er zwischen den letzten Häusern der Kleinen Stadt nicht mehr zu erkennen
war.
III. TEIL
l. KAPITEL
Was wir zu guter Letzt noch über Sibylle erfahren
Sibylles Vater hatte seine eigene Tochter mit einem unbekannten Flugwesen
verwechselt, hatte einen aufregenden S Bericht darüber ans Ministerium
geschickt, hatte die ganze Zeit daran geglaubt, daß er der erste Sterbliche
war, der ein Lebewesen von einem fremden Stern gesichtet hatte.
Es verging ein volles Jahr, und nichts geschah. Außer daß die Kleine
Stadt aufblühte, daß alle Leute froh waren über den Schlamm, weil er ihnen
so vielfältige Verdienstmöglichkeiten brachte.
Dem alten Fluß hatte man ein neues Bett gegraben, hatte neue Quellen
herbeigeleitet und die Stadt mit Trinkwasser versorgt.
Eine nie gekannte Heiterkeit hatte sich unter den Leuten verbreitet;
alle waren freundlich zueinander, solange der Wohlstand erst im Anwachsen
begriffen war.
Von diesen Dingen wußte Sibylles Vater nicht viel. Seine Gedanken kreisten
auf ihren eigenen elliptischen Bahnen um die Himmelskörper, um das neuentdeckte
Sternchen mit zappelnden Kinderbeinen.
Endlich aber kam die Antwort doch noch vom Ministerium. Man bot Sibylles
Vater eine bedeutende Stelle am größten Planetarium des Landes an. Hatte
der Mann, der das erste lebende Wesen im All entdeckt hatte, nicht auch
ein Anrecht darauf?
So zogen also Sibylles Eltern aus ihrer weißen Wohnung am Flußufer
aus. Sie ließen alles so zurück, wie sie es für sich selbst wohnlich gemacht
hatten, nahmen nur das Allernötigste in drei Handköfferch'en mit. Ohne
Abschied zu nehmen, verließen sie das Haus. Nicht, weil sie etwa mit den
Nachbarn verstritten gewesen wären, ihnen schienen nur Entfernungen nicht
wichtig zu sein.
Als Sibylles Eltern, das Mädchen in ihrer Mitte, um Mitternacht davongingen,
herrschte vollkommene Ruhe ringsum.
Im Barackenlager am Flußufer lagen die Bildhauer, Fridolins Schüler,
entweder müde im Schlaf oder dachten über neue Bildwerke nach, die in den
nächsten Tagen unter ihren formenden Händen Gestalt annehmen sollten.
Die Chemiker und Doktoren schlugen sich noch im Traum mit neuentdeckten
Formeln oder der Frage herum, wie der wundertätige Schlamm am besten anzuwenden
sei.
Die fleißigen Ziegelbrenner schlummerten müde und traumlos dem nächsten
Arbeitstag entgegen, während die Besitzer der großen Ziegelscheuern wohl
noch über ihren Büchern saßen und ihr Einkommen berechneten, das von Tag
zu Tag wuchs.
Von Familie Langfinger (o weh, nun habe ich sie bei ihrem wahren Namen
genannt, wo sie sich bisher doch so sorgfältig unter dem Namen Fanglin-ger
verborgen halten konnten!), Familie Fanglin-ger also, von der ist wenig
zu berichten, haben sie sich doch seit der Niederlage durch Sibylle nicht
mehr blicken lassen; einzig Gauni strich manchmal ums Haus herum, und immer
öfter sah man ihn mit zweien von Geinis Brüdern tuscheln. Dann verschwand
er wieder.
Sibylle überlegte, ob es ihr leid tat, von ihrem Freund Gauni nun so
ohne Abschied davonzugehen. Sie verspürte nicht das geringste Bedauern.
Es konnte eher Erleichterung genannt werden, was sie bewegte, wenn sie
an ihre Trennung von Gauni dachte.
Aus Geinis Wohnung schimmerte ein roter Schein von dem kleinen Kohlenfeuer,
das Tag und Nacht in der Küche schwelte. Geini und seine Geschwister schliefen
tief unter ihrem gemeinsamen Federbett im Hof, dicht an die Erde geschmiegt.
Daß Geini kurz nach ihr blinzelte, als sie an ihnen vorüberging, schien
ihr und ihm des Abschieds genug.
Nur die alte Pipa Rupa stand unter der knorrigen Weide, als Sibylle
und ihre Eltern das Haus verließen. Auf Pipa Rupas rechter Schulter saß
der Halbmond.
Sibylles Vater verschluckte sich, als er das sah, sagte aber kein Wort,
um sich nicht zu blamieren. Er war nämlich fest überzeugt, daß er in der
Aufregung seiner neuen Berufswürde und des Übersiedeins bestimmt in einen
Zustand höchster Erregung geraten war und es mit Hirngespinsten zu tun
hatte. (Wodurch bewiesen wird, daß ein Mensch, der unter Menschen lebt,
sich auch um alles Lebendige um ihn herum kümmern sollte. Sicherlich hätte
ihm ein Nachdenken über Pipa Rupa und ihre Sippe ebensoviel Staunenswertes
eingebracht wie das Studium des Sternenhimmels;
vielleicht hätte er dann auch Sibylles Kleider gekannt und nicht ausgerechnet
seine eigene Tochter für ein fliegendes Sternchen gehalten!)
Sibylles Mutter ging ganz in Gedanken versunken wortlos grüßend an
Pipa Rupa vorbei.
Sibylle aber lief auf sie zu. Sie trug schwer an der Stange, auf der
ihre drei Sterne saßen. »Pipa Rupa«, bat sie, »du weißt, meine Sterne sind
ohne Erlaubnis des Ministeriums aus einem dichten Sternhaufen herausgeklaubt
worden, ich kann sie nicht zu der großen Sternwarte mitnehmen, sie müssen
zurück. Wie mache ich das nur...«
Mit einer leisen Handbewegung bedeutete Pipa Rupa dem Mond, der immer
noch auf ihrer Schulter saß wie eine schnurrende Katze, sich der drei Sterne
anzunehmen. Er stieg hoch, die Sterne schwebten hinter ihm drein, höher
und noch höher. Sibylle bewunderte, wie sie sich ganz ohne Widerspruch
an ihren alten, langweiligen Platz auf dem Himmelsgewölbe bringen ließen.
Dann sagte Sibylle: »Pipa Rupa, ich kann wieder fliegen.«
Pipa Rupä lächelte, als sie antwortete: »Ich weiß es, Kind. Ich habe
dich gesehen, als du frei wurdest. Dein Vater hat dich auch gesehen.«
Sibylle wollte es nicht glauben. »Er hat mir nichts davon gesagt«,
entgegnete sie.
»Genug, daß er darüber einen wissenschaftlichen Bericht ans Ministerium
verfaßt hat...«
»Ach, Pipa Rupa«, jetzt lachte Sibylle silbern in die Nacht hinein,
»mein Vater hat doch ein lebendes Wesen aus dem All gesehen! Als erster!
Darum hat man ihn ja auch zu der großen Sternwarte berufen, Pipa Rupa!«
»Das lebende Wesen aus dem All, Kind, das warst du! Dich hat er ins
Objektiv bekommen!« Jetzt war es an Pipa Rupa, zu lachen, und sie lachte
so laut, daß die Goldmünzen aus ihren Zöpfen ganze Lieder klirrten.
»Aber dann...«, stammelte Sibylle, »dann gehen wir ja aufgrund einer
Lüge zu der großen Sternwarte, dann... dann ist ja alles gar nicht wahr,
dann darf mein Vater diese Stelle doch gar nicht annehmen...«
»Langer Weg im Gewitter. Über die Berge rollender Donner. Glücklich
fand er den Bezirk seiner Träume. Schwarze Sonne aller Hoffnung...«, raunte
Pipa Rupa. »Dein Vater hat nicht gelogen. Er hat sich nur geirrt, Sibylle.
Aber er glaubt an seinen Irrtum, ein Lebewesen aus dem All entdeckt zu
haben, und das ist das Wichtigste….