RICARDA MARIA TERSCHAK

ELMOLIN

St. Benno-Verlag GmbH
Leipzig
Die Menschen sind noch nie gesehene Vogel
Mit nach innen gewachsenen Schwingen,
Die schlagen, fliegen, schweben
In einer reineren Luft: dem Gedanken
Nichita Stanescu
I. TEIL
1. KAPITEL
Von einem Gnom und einem Snger

Zu einer Zeit, als die Menschen noch | nicht alles wuten und zudem auch gar ' nicht wuten, da sie nicht alles wuten, als sie noch nicht jede Anhhe erklommen, nicht die Tiefen aller Meere vermessen hatten, da gab es mitten in einem uralten Tannenwald eine einsame Bergkuppe, die auf keiner der Landkarten jener Zeit eingezeichnet stand und von der niemand auch nur eine Ahnung hatte.
Es war die Bergkuppe der Schlammvulkane. Aus schmalen Schloten, aus runden, tischhohen Kratern, aus niedrigen, breiten Pfannen brodelte und zischte kalter, eisengrauer Schlamm aus dem Erdinnern hervor, blies gluckernde Blasen auf, spritzte hoch, erlosch dann wieder und blubberte aufs neue los, von Giftgasen in stndiger Unruhe gehalten.
Bei jedem berschumen setzte sich Schlamm an den Rndern der kleinen Vulkane an, erhrtete zu grauem Ton und lie die Kraterwnde unmerklich anwachsen. Zugleich aber hob sich durch das stndige berflieen auch der Grund, auf dem sie standen. So kam es, da sie zwar wuchsen, trotzdem aber kaum hher wurden, als sie schon waren, weil sie sich mitsamt ihrem Trgerberg langsam und stetig in die Hhe arbeiteten.
Sie glichen einem Wald von ungleichmig hohen Kerzenstmpfen, an denen graues Wachs heruntertropft.
Am Waldrand, einen Steinwurf von den kleinen Schlammvulkanen entfernt, stand eine bemooste, unkrautumwucherte Blockhtte. Zwischen die roh gezimmerten Balken der Wnde waren Moospolster gestopft, um das Innere der Htte gegen Wind und Unwetter abzudichten. Tag und Nacht kroch ein dnner, blauer Rauchfaden zwischen den Dachschindeln hervor, wie man es zuweilen auch heute noch bei alten Bauernhusern oder Sennhtten sieht.
In der Blockhtte schwelte ununterbrochen ein Vulkan, der durch regelmige Beigabe von geheimnisvollen Krautern und rotem Stein zu einer glutheien Feuerstelle geworden war.
Wenn auch ein gut gangbarer Pfad aus flachen Steinen zwischen den Grasnarben und den tiefen Schlammfeldern vom Wald bis zur Eingangstr der Htte fhrte, so hatte sich seit Menschengedenken doch noch nie ein Wanderer, ein Holzfller oder Jger bis zur Kuppe der Schlammvulkane verirrt.
In der Blockhtte hausten seit undenklichen Zeiten zwei Mnner. Wann sie zueinander gefunden hatten und aus welchem Grunde, das wute keiner von ihnen mehr zu sagen. Sie dachten auch nie darber nach, ihnen gengte das Bewutsein, da sie beide zusammengehrten. In der ganzen Welt gab es niemanden, der sich darber Gedanken gemacht htte, aus dem einfachen Grunde, weil man weder von den Schlammvulkanen noch von der Htte oder ihren Bewohnern etwas wute.
Der eine von ihnen stieg hin und wieder zu der Kleinen Stadt hinab, die am Fue der Berge lag, um auf Jahrmrkten zu den Klngen seiner Drehorgel den Leuten etwas vorzusingen. Man lauschte ihm gern, man warf eine Mnze in seinen Hut, ging weiter und verga ihn.
Woher er kam und wohin er ging, danach fragte niemand.
Sie kannten und mochten ihn als Fr idolin, den Snger, und das gengte ihnen.
Fridolins Hausgenosse war eine ungewhnliche Erscheinung.
Klein, rundbuchig, mit breiten Schultern und riesigen Fusten ausgestattet, rannte und kugelte er mit der Behendigkeit einer Springmaus ber die Heide, zur Htte hinein, wieder heraus, sprang ber die flachen Steine, rutschte ber den eisgrauen Schlamm, fiel, besudelte sich ber und ber, arbeitete sich keuchend hoch und trudelte weiter, bis er auf seinen kurzen Sbelbeinchen vor den Schlammvulkanen stand, hineinguckte wie ein Schuljunge in Mutters Kochtpfe, von einem zum
anderen rannte und murmelnd mit einem langen Stecken in den Kratern rhrte.
Es war der Gnom E l m o r c k, der Herr des kalten Schlammes.
Irgendwann war er im Inneren der Erde, vielleicht aus Lava und Stein, geboren worden. Trolle und Kobolde, Elfen und Feuergeister hatten ihm bei seinen ersten taumelnden Schritten durch Gnge und Ritzen, ber Wasseradern und Kohlenlager zugesehen. Kaum aber trugen ihn seine krummen Beinchen sicherer ber die unterirdischen Halden, kaum konnte er mit seinen blavioletten, groen Augen die Baumwurzeln von steifgefrorenen Schlangen und Wrmern unterscheiden, als er sich auch schon als Gesetzgeber und Knig aller Unterirdischen aufspielen wollte. Er redete viel und bles, er verlangte von allen, da sie sich ihm unterwarfen, ihm dienten. Dabei eignete er sich dafr wenig und forderte dennoch alles.
Bis eines dunklen Tages die Unterirdischen seine Dummheit und Eitelkeit satt bekamen. Sie sammelten alles, was an Bosheit und blen Reden aus seinem Mund gekommen war, rhrten es zu Schlamm und katapultierten es mitsamt dem eingebildeten Gnom aus ihrer Welt hinaus, an die Oberflche. Mochten die Menschen sehen, wie sie mit ihm fertig wurden.
So also waren vor Urzeiten die Schlammvulkane entstanden, und so war der Gnom Elmorck auf die Welt gekommen.
Es scherte Elmorck wenig, da er hinausgeworfen worden war. Mit seinen groen, blavioletten Augen schaute er neugierig umher, trudelte geschftig ber den Berg, stand lachend zwischen seinen kleinen Vulkanen. Lachend stie er ihnen den Stecken in die Eingeweide und rhrte ihr Inneres auf, lachend lie er sich von ihnen anspukken, bergieen, besprhen.
Es strte ihn auch nicht im geringsten, wenn ein Vogel sich verirrte und von den ausstrmenden Gasen vergiftet, laut klagend im kalten Schlamm versank.
Es rhrte ihn nicht, wenn alles Gras, das rings um die Anhhe aufkeimen wollte, von den eisgrauen Massen bedeckt wurde.
Sein ganzes Streben ging dahin, den Schlamm durch fortwhrendes Rhren am Brodeln zu halten. Wozu er das tat, wute er nicht. Er hatte nur ein dunkles Gefhl, es knne ihm einmal ntzlich sein.
2. KAPITEL
Von einem Jungen namens Geini

Unterhalb der Kuppe der Schlammvulkane lag in einem breiten Tal die Kleine Stadt. Darin hatte sich nie etwas Beson-1 deres zugetragen, nie war dort etwas Bemerkenswertes geschehen. Ruhig gingen die Bewohner ihren Beschftigungen nach. Der Flu, der an der Kleinen Stadt vorbeiflo, hatte zwar seinen Ursprung in der Quelle, die neben der Blockhtte Fridolins und Elmorcks entsprang, aber das wute keiner, man fragte auch nicht danach. Man geno nur das ungewhnlich khle und klare Wasser und freute sich ber den groen Fischreichtum.
In dieser Stadt gab es natrlich, wie berall, auch sehr viele Kinder. Drei davon spielen in unserer Geschichte eine besondere Rolle; es waren zwei Jungen und ein Mdchen.
Einer der Jungen hie Geini.
Er gehrte einem Volk an, das keinen Unterschied kannte zwischen der Natur und der brigen Welt. Fr diese Leute konnte ein Wald dasselbe bedeuten wie fr unsereins das schnste Haus, die Sternenpracht einer linden Sommernacht war ihnen ebensoviel wert wie anderen ein herrlicher Prunksaal, und einen wolkenverhangenen, regnerischen Himmel nahmen sie als Gelegenheit, wieder einmal mhelos sauber gewaschen zu werden und nebenbei auf freundlichere Tage zu hoffen.
Im Laufe der Jahrtausende entstehen Vlker, verndern sich, entwickeln sich im Guten oder Schlimmen, sie fhren Kriege oder schaffen Bauten und Kunstwerke, verschwinden dann langsam wieder.
Das Volk, dem Geini angehrte, war anders.
Mitten hindurch flo die Zeit und nderte es nicht. Jahrtausendelang blieb es, was es von Beginn an gewesen war.
Was die Leute sich erdachten, das gab es auch, was sie sich wnschten, konnten sie auch tun. Was sie trumten, das geschah. Fr sie gab es nichts Nahes, nichts Entferntes. Sie standen immer mitten im Raum und mitten in der Zeit.
Was sie sahen, das konnten sie nicht in Worten ausdrcken, sie konnten es aber singen und tanzen. Alles Natrliche war ihnen so nahe wie ihre eigene Haut. Jeden Schmerz ertrugen sie, als gehrte er zu ihnen. Nie klagten sie ber Hunger oder Klte.
Das Feuer war ihnen heilig, sie schliefen an die Erde geschmiegt, Wasser bedeutete fr sie Leben.
ber ihre Art zu leben, sprachen sie nie. Auch nicht an den langen Abenden, wenn sie rings um ihre schwelenden Feuer saen.
Sie lebten in Gruppen, ertrugen ruhig alle Not. Hatten sie aber einmal berflu, so berauschten sie sich daran mit viel Feuer, mit von Fett triefenden Pfannen, mit Strmen von Wein, mit lautem Gesang und wilden Tnzen.
Die Gesetze, die die brige Welt ihnen auferlegte, miachteten sie. Sie hatten ein Geheimnis, das sie selber nur ahnten, und sie achteten nichts anderes als das Schweigen um dies Geheimnis, in dessen Mitte sie lebten wie in einer Kugel.
Es war noch gar nicht lange her, da Geinis Familie mit ihrem gesamten Hab und Gut von Ort zu Ort gezogen war. An Regen und Sonnenglut, an Hunger wie an berflu gewhnt und mit allem zufrieden, fuhren sie in bunt bemalten
Wohnwagen durch das Land, ziellos, dankbar fr jeden guten Platz an irgendeinem Fluufer, den sie abends nach langen Tagesreisen als Raststtte whlten.
Das von Wetter und Jahren zermrbte, schwarze Stangenzelt bot gengend Raum fr die ganze Familie, vor allem, weil die greren Shne unter freiem Himmel schliefen. Im Zelt lagen die Frauen und die kleineren Kinder und sahen bis zum Einschlafen dem Vater zu, der mit den anderen Mnnern der Sippe noch lange drauen sa und das Feuer schrte.
Manchmal hob sich auch die hohe Gestalt der Gromutter als schwarzer Umri vor dem helleren Himmel ab, wenn sie zwischen den Zelten umherging, bis sich vor dem schmalen Spalt des Zelteingangs im Laufe der vergehenden Abendstunden die Sternbilder verschoben und der Mond aufkam, der, wie es Geini und seinen zahlreichen Geschwistern zuweilen schien, sich mit der Vertrautheit einer schnurrenden Hauskatze auf Gro-mutters Schulter niederlie, wenn sie mit leiser Stimme eindringlich alte Worte ihrer Sprache zum Himmel hin raunte.
Ihre Kleidung sah aus wie die bliche, die alle Frauen ihres Stammes trugen. Dennoch lag um die Gromutter immer etwas wie das Ahnen einer sehr fernen Vergangenheit, endlose Wege und Mhen, aber auch das Wissen um ein Geheimnis und um eine Kraft sah man in ihren Augen. Sie war nicht einfach irgendeine alte Frau ihrer Sippe.
Sie war wie das Bild aller Frauen aus alten Vlkern, die heute noch in verschiedenen Teilen der Welt leben.
Ihre Hnde waren rissig wie die Rinden uralter Bume, braun und hart. Man empfand ihre Berhrung wie ein Schaben. Welche Heilkraft in ihnen lag, davon wuten jene zu erzhlen, denen die alte P i p a R u p a diese vertrockneten Hnde auf schmerzende Stellen gelegt und Linderung gebracht hatte.
Und dann geschah das Unvorstellbare :
Obwohl das freie Leben, die Luft, der nchtliche Himmel, das tgliche Fahren und das Rauschen immer anderer Flsse zu dieser Familie gehrten wie ihr Eigenstes, lieen sie sich eines Tages von wortgewandten Stadtvtern berreden, das unstete Wanderdasein aufzugeben und eine schne, gerumige Wohnung in einem neuen Mietshaus am Fluufer in der Kleinen Stadt zu beziehen.
3. KAPITEL
Von Herrn und Frau Fanglinger und ihrem Sohn
ber Geinis zu ebener Erde gelegenen Wohnung im ersten Stock wohnte Gauni mit seinen Eltern. Gauni, der zweite Junge, von dem in dieser Geschichte die Rede sein soll. Gauni sah aus wie alle anderen Jungen der Kleinen Stadt und stand genau in Geinis Alter. Bevor er mit seinen Eltern in das neue Wohnhaus am Fluufer gezogen war, hatten sie in einem kleinen Einfamilienhaus gewohnt, das ihnen allerdings im Laufe der Zeit zu eng geworden war.
Gaunis Eltern genossen in den Kreisen der Diebe aller Art den guten Ruf, die Knige smtlicher Taschendiebe zu sein. Es gab keine Hosentasche, die sie nicht im Handumdrehen htten leeren knnen, es gab keine Taschenuhr, die nicht nach einer kurzen Begegnung mit dem Besitzer in ihren eigenen Taschen weitertickte. Wo sie vorberkamen, blieb keine Brieftasche bei ihrem rechtmigen Herrn, kein goldener Ring an den Fingern der Damen. In der Pferdebahn (der Vorluferin unserer Straenbahn), im Gasthaus, im Theater, auf der belebtesten wie auf der einsamsten Strae fanden sie Gelegenheit, ihren Beruf auszuben.
Wie es sich zutrug, als Herr Fanglinger (Gaunis nachmaliger Vater) seine Frau (die spter Gaunis Mutter werden sollte), kennenlernte, gehrt zwar nicht unmittelbar zu dieser Geschichte, ist aber eine so unterhaltsame Begebenheit, da sie hier, sozusagen in Klammern, auch berichtet werden soll.
Herr Fanglinger lebte als Junggeselle und pflegte, um sich nicht zu Tode zu langweilen, hin und wieder Selbstgesprche zu fhren. So geschah es, da er sich zum Beispiel ermahnte: Mein Lieber, sagte er laut zu sich, da du Junggeselle bist und keinen hast, der dir die Kleider in Ordnung halten knnte, mut du selbst nach dem Wichtigsten daran sehen, nmlich nach den Taschen. Denn Taschen mssen erstens sehr gut verschliebar sein (du weit schon, weshalb), was man mittels Haken, Reiverschlssen und geschickt angebrachten doppelten Knopfreihen erreicht. Zweitens drfen Taschen nie zerrissen sein, weil sonst sehr leicht alles wieder herausfiele, was man mit Schlauheit, Fingerfertigkeit und Gefahr auf seinen Beutezgen ergattert hat. Also whlst du, nachdem deine Taschen alle in Ordnung sind, heute wieder einmal die lngste und zugleich belebteste Strecke der Pferdebahn. Da steigen dauernd neue Fahrgste hinzu, alle mit (hoffentlich!) noch unangetasteten Mantel- und Hosentaschen, und fr beinahe zwei Stunden Fahrt mut du nur eine einzige Fahrkarte lsen.
Sparsam war Herr Fanglinger auch, und das ist ein schner Charakterzug.
Also stand er mit freundlichem Gesicht in der Pferdebahn. Er hatte einer lteren Dame zu einem Platz verholten, er hatte einen invaliden Herrn beim Einsteigen gesttzt und ihn zu einem Sitz geleitet. Einer jungen Mutter hatte er eine Weile ihr Wickelkind gehalten und einen beleibten Mann, der allem Anschein nach ein Metzger war, um Wechselgeld gebeten. Lauter Gelegenheiten, nach welchen die Betroffenen ahnungslos mit leeren Taschen oder Geldbrsen dastanden, aber glcklich waren, einen so netten, hilfsbereiten Herrn in ihrer Nhe zu haben.
Etwas gelangweilt stand Herr Fanglinger nun da und las ein wenig die Nachrichten in der Zeitung mit, die der Herr am Fenstersitz gerade studierte. Herr Fanglinger war nicht ganz bei der Sache, denn er berschlug in Gedanken seinen heutigen Gewinn. In seinen Taschen, hier und da aufgeteilt, befanden sich nun bereits drei Herrenuhren samt Goldketten, ein teurer, schwerer Goldreif, fnf pralle Geldbrsen, Ringe sowie anderes, was er als verschnrte Pckchen entwendet hatte. Er hoffte, da sie wertvolle Dinge enthielten. Nun erwog er vorsichtig, ob es nicht ratsam wre, beizeiten die Pferdebahn zu verlassen und sich im Gedrnge der Gehsteige zu verlieren, als - was? Was war das?
Nein. Das war doch unmglich. Unerhrt war das!
Unbeweglich stand Herr Fanglinger da, whrend sich seine Gedanken frmlich berschlugen. Schlielich konzentrierte er sich auf die Bewegungen einer kleinen, zarten Hand, die sich unendlich behutsam aus einer seiner Taschen in die andere stahl. Doppelte Knopfreihen, Sicherheit? Alles Einbildung. Die Hand war da, die Knpfe alle offen, die Taschen leer.
Herr Fanglinger schwankte zwischen rger und pltzlich erwachendem beruflichem Interesse. Was da mit ihm geschehen war, das htte er selbst nicht besser machen knnen, war also das Werk einer tchtigen Konkurrenz. Wer war das ? Schnell einen Blick nach hinten werfen:
Da stand ein halbwchsiges Mdchen, hbsch, sehr sorgfltig gekleidet, freundlich lchelnd.
Das Gesicht des Mdchens drckte eher Langeweile aus als angespannte Aufmerksamkeit, whrend jetzt das letzte Stck aus Herrn Fanglingers Manteltasche verschwand.
Was er hernach tun wollte, das hatte sich Herr Fanglinger blitzartig und bis ins kleinste zurechtgelegt. Also konnte er den Augenblick darauf verwenden, das unbekannte Mdchen vom technischen Standpunkt aus bei seiner Ttigkeit zu beobachten. Unter Umstnden liee sich da der eine oder andere Kunstgriff hinzulernen.
So sehr es ihn auch wurmte, mute Herr Fanglinger dennoch zugeben, da das junge Mdchen ihm, dem Besten aller Taschendiebe, in der Fingerfertigkeit kaum nachstand. Noch einige Jahre und sie wrde ihn berflgelt haben. Das schien sicher. Wre es da nicht besser, sich mit der jungen Dame zu verbnden, als sie jetzt mit Radau zu entlarven und sie sich zur Feindin zu machen?
Also fhrte Herr Fanglinger lchelnd durch, was er sich vorhin zurechtgelegt hatte. Mit einer blitzartigen Bewegung griff er zu, als die zarte Hand des Mdchens gerade die letzte Tasche durchwhlen wollte. Eisern legte sich die feingegliederte, langfingerige Hand des Knigs aller Taschendiebe um das schmale Handgelenk der schnen Konkurrenz. Ein kurzer Blick nach hinten berzeugte ihn davon, da der Schock vollkommen war. Das Lcheln war aus dem Mdchengesicht verschwunden, die Wangen hatten sich krebsrot gefrbt.
Mit einer unglaublich raschen, schlangenartigen Bewegung suchte die Ertappte, sich ihm zu entwinden, Herrn Fanglingers Griff aber war so fest wie der eines Schraubstocks.
Dann wandte er sich ruhig und weiterhin freundlich lchelnd dem Mdchen zu.
Das Mdchen schrie, aber nur mit den Augen:
Lassen Sie mich los, bitte, bitte, ich will es bestimmt nie wieder tun!
Herr Fanglinger antwortete, auch nur mit den Augen: Du bist schn und auch geschickt. Du mut mit mir kommen. Dann sprach er so leichthin, als sei berhaupt nichts geschehen, die junge Dame an: Komm, wir mssen aussteigen. Da ist schon unsere Haltestelle.
Unterwegs nahm er seine Gefangene beim Arm, fhrte sie so, da jeder denken mute, die beiden gehrten ganz einfach zueinander. Da die Hand des Mdchens nicht zrtlich umschlossen, sondern unentrinnbar wie in Handschellen in seiner lag, das sah man weder ihm noch ihr an. Hatten sie doch beide allen Grund, ihr wahres Verhltnis vor den Vorbergehenden zu verheimlichen.
In seiner Wohnung angelangt, lie er sie endlich frei. Sie rieb sich die Finger, das Handgelenk. Herr Fanglinger sagte kein einziges Wort, lie ihr Zeit, sich vom Schreck zu erholen. Er sah sie auch keineswegs bse an, winkte nur nach einer Weile unmiverstndlich mit dem Zeigefinger.
Das Mdchen war klug, begriff auch ohne lange Erklrungen. Es legte nacheinander die Gegenstnde, die es in Herrn Fanglingers Taschen gefunden hatte, auf das Tischtuch aus dunkelgrnem Samt. Das Tuch ist schon ziemlich schbig und verschlissen, sagte sie und versuchte ein Ablenkungsmanver. Sie sollten sich ein neues Tischtuch kaufen.
Herr Fanglinger nickte, seufzte und sagte so nebenbei: Noch eine schwere, goldene Uhr, bitte. Als die kurz darauf auch neben den anderen rckerstatteten Gegenstnden auf dem schbigen Samttuch glnzte, forderte er: Und jetzt noch die dicke Goldkette, die dazu gehrt.
Da brach das fremde Mdchen in Trnen aus.
Teilnahmsvoll erkundigte sich Herr Fanglinger:
Weshalb weinst du denn ? Wenn man so viel Talent hat wie du, braucht man nicht zu weinen.
Talent hin, Talent her, aber was esse ich heute ?
Da wurde Herr Fanglinger von Mitleid geschttelt. Er fragte: Mchtest du ein Spiegelei?
Leise und verschmt kam die Antwort: Ja, bitte.
Du kannst ein Spiegelei essen, sagte er darauf, aber nur, wenn du es dir selber machst.
Auch fr Sie eins ?
Herr Fanglinger nickte zufrieden. Dann setzte er sich in seinen Polsterstuhl, merkte pltzlich,
Ein kurzer Blick nach hinten berzeugte ihn davon, da der Schock vollkommen war. Das Lcheln war aus dem Mdchengesicht verschwunden, die Wangen hatten sich krebsrot gefrbt.
Mit einer unglaublich raschen, schlangenartigen Bewegung suchte die Ertappte, sich ihm zu entwinden, Herrn Fanglingers Griff aber war so fest wie der eines Schraubstocks.
Dann wandte er sich ruhig und weiterhin freundlich lchelnd dem Mdchen zu.
Das Mdchen schrie, aber nur mit den Augen:
Lassen Sie mich los, bitte, bitte, ich will es bestimmt nie wieder tun!
Herr Fanglinger antwortete, auch nur mit den Augen: Du bist schn und auch geschickt. Du mut mit mir kommen. Dann sprach er so leichthin, als sei berhaupt nichts geschehen, die junge Dame an: Komm, wir mssen aussteigen. Da ist schon unsere Haltestelle.
Unterwegs nahm er seine Gefangene beim Arm, fhrte sie so, da jeder denken mute, die beiden gehrten ganz einfach zueinander. Da die Hand des Mdchens nicht zrtlich umschlossen, sondern unentrinnbar wie in Handschellen in seiner lag, das sah man weder ihm noch ihr an. Hatten sie doch beide allen Grund, ihr wahres Verhltnis vor den Vorbergehenden zu verheimlichen.
In seiner Wohnung angelangt, lie er sie endlich frei. Sie rieb sich die Finger, das Handgelenk. Herr Fanglinger sagte kein einziges Wort, lie ihr Zeit, sich vom Schreck zu erholen. Er sah sie auch keineswegs bse an, winkte nur nach einer Weile unmiverstndlich mit dem Zeigefinger.
Das Mdchen war klug, begriff auch ohne lange Erklrungen. Es legte nacheinander die Gegenstnde, die es in Herrn Fanglingers Taschen gefunden hatte, auf das Tischtuch aus dunkelgrnem Samt. Das Tuch ist schon ziemlich schbig und verschlissen, sagte sie und versuchte ein Ablenkungsmanver. Sie sollten sich ein neues Tischtuch kaufen.
Herr Fanglinger nickte, seufzte und sagte so nebenbei: Noch eine schwere, goldene Uhr, bitte. Als die kurz darauf auch neben den anderen rckerstatteten Gegenstnden auf dem schbigen Samttuch glnzte, forderte er: Und jetzt noch die dicke Goldkette, die dazu gehrt.
Da brach das fremde Mdchen in Trnen aus.
Teilnahmsvoll erkundigte sich Herr Fanglinger:
Weshalb weinst du denn ? Wenn man so viel Talent hat wie du, braucht man nicht zu weinen.
Talent hin, Talent her, aber was esse ich heute ?
Da wurde Herr Fanglinger von Mitleid geschttelt. Er fragte: Mchtest du ein Spiegelei ?
Leise und verschmt kam die Antwort: Ja, bitte.
Du kannst ein Spiegelei essen, sagte er darauf, aber nur, wenn du es dir selber machst.
Auch fr Sie eins ?
Herr Fanglinger nickte zufrieden. Dann setzte er sich in seinen Polsterstuhl, merkte pltzlich, da der auch arg zerschlissen war - ein Umstand, der ihm bis zu diesem Augenblick noch nie aufgefallen war, las gemtlich die Nachrichten aus einer Zeitung, die zufllig mitsamt der Geldbrse aus einer fremden Aktentasche mitgekommen war, und freute sich auf das Spiegelei.
Die Gesprche zwischen den beiden, die es whrend des Mittagessens und wohl auch nachher gegeben hat, sind nicht bekannt. Es ist mglich, da es dabei um berufliche Fragen ging, es ist auch nicht ausgeschlossen, da sie sich gegenseitig ihre Spezialgriffe beibrachten. Fest steht nur, da das Mdchen den ganzen Nachmittag dort blieb und da Herr Fanglinger nach dem Abendessen sagte, wobei er sich heftig verschluckte:
Weit du was? Ich bitte dich um deine Hand. Hm, hm. Aber nicht in meinen Hosen- oder anderen Taschen, sondern ich bitte dich um deine Hand, wie man so schn sagt, zum Heiraten.
Na gut, antwortete das Mdchen hierauf, woraus Herr Fanglinger entnahm, da es keine besonders gute Erziehung genossen hatte.
So also war es zugegangen, als Gaunis Eltern sich kennenlernten. Von da an arbeiteten sie gemeinsam, schafften sich immer neuere, immer wertvollere Einrichtungsgegenstnde an, schlielich brachten sie es so weit, da sie, wie eingangs erwhnt, in Fachkreisen als die Knige der Taschendiebe angesehen wurden.
Es war nicht zu vermeiden, da eines Tages der kleine Gauni zur Welt kam. Dadurch wurden seine Eltern zwar fr einige Zeit an der Ausbung ihres Berufes gehindert, bald aber war er gro genug, um langsam auch ins Fach eingefhrt zu werden.
Als sie die Wohnung im neuen zweistckigen Haus am Fluufer fanden, war das kleine Huschen, das sie bis dahin bewohnt hatten, gerade zu eng geworden.
Also schien es ihnen ein Glck, ein so komfortables Haus gefunden zu haben, und sie bezogen die Rume des ersten Stockwerks auf der Stelle.
4. KAPITEL
Von einem Mdchen, das aus dem Gewchshaus kam
Die Eltern des Mdchens S i b y 11 e, das in unserer Geschichte eine wesentliche Rolle spielt, hatten die Rume des zweiten, also des obersten Stockwerks in dem neuen Wohnhaus am Fluufer bezogen. Sibylle war, obwohl sie mitunter den gegenteiligen Eindruck erweckte, ein ganz gewhnliches Kind. Vielleicht war sie mit einer reicheren Phantasie begabt als andere Kinder, es knnte aber auch sein, da sie nur die Welt, die Menschen und die Dinge mit offeneren Augen betrachtete als die meisten Leute. Ansonsten lebte und fhlte sie genauso wie alle anderen ihresgleichen. Hervorzuheben wre allerdings, da Sibylle denken konnte. So be-trachtet, unterschied sie sich nun tatschlich von den meisten Menschen.
Vielleicht rhrte diese Fhigkeit aus dem Umstand, da ihre Eltern Berufe ausbten, die sozusagen Erde und Himmel verbanden: Sibylles Mutter war Grtnerin. Durch Kneten und Vermengen mit Sand, Ziegelstaub und gestampftem Mrtel bereiteten ihre Hnde die Erde so vor, da die zarten Pflanzen sich wohlfhlten und entfalten konnten. Sie beobachtete ihr Wachstum, hielt Unkraut und Schdlinge von ihnen fern, erntete, wenn die Zeit da war, Wurzeln, Frchte oder Blumen, je nach der Art.
Sie liebte es, barfu auf dem festgestampften Boden des Gewchshauses zu stehen und mit behutsamen Hnden die Erde zu pflegen. Aus dieser doppelten Berhrung kam ihr Kraft. Wenn sie sprach, klang es weich, und wenn sie durch die Straen schritt, sah sie aus wie ein schwerer, voller Blumentopf mit ppig ber alle Rnder wuchernden Trieben.
Sibylles Vater war ein schweigsamer Mann. Nacht fr Nacht sa er vor seinen funkelnden Messingrohren und beobachtete die Sterne. Sein Denken kreiste um die Himmelskrper, als habe es dort oben seine eigene Bahn, seine Augen trugen den Glanz der unbeschreiblichen Farben der Sternennebel. Er war schon sehr alt.
Man sprach damals bereits hufiger ber die Mglichkeit, da man doch irgendwann Leben im Weltall finden msse. Danach suchte er, staunte aber nicht weniger ber das Wunder des keimenden Lebens im Gewchshaus seiner Frau. (Was auch ein Grund dafr war, da Sibylles Eltern lange Jahre in diesem Glashaus wohnten, ohne nach einer herkmmlichen Wohnung zu verlangen.)
Grenzenlos war seine Freude, als seine Frau eines Nachts niederkam und Sibylle zur Welt brachte. Damals sprachen sie lange miteinander, und er erzhlte ihr von seiner Erkenntnis, da das sprieende Leben der Pflanzen, das Dasein ihres Kindes und die Hoffnung auf Leben im All keineswegs drei verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe seien.
Im Glashaus verliefen Sibylles erste Jahre unter dem Auf- und Untergehen von Sonne und Sternen. Die dnne Glasschicht, die ihre Wohnstube von der Auenwelt trennte, schtzte sie zwar vor Klte, Schnee oder Sturm, versperrte ihr aber nicht die freie Sicht nach allen Seiten. Treibende Bltter, trommelnder Hagel, neues Grn gehrten in Sibylles Welt wie der flatternde Sperling oder ein wochenlang trb verhangener Himmel. Regen bedeutete fr Sibylle ein Ereignis, denn sein Rauschen fllte die Stille im Glashaus mit Klngen.
In der neuen Wohnung am Fluufer fand Sibylle Bequemlichkeiten, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Tglich geno sie das warme Bad, das Gehen aus einem Raum in den anderen war ihr ein Spiel. Den leisen, stetigen Luftzug, mit dem sich der Wind durch undichte Stellen ins Glashaus gestohlen hatte, lieen die dicken, gemauerten Wnde nicht durch, aber auch die Sonne konnte nicht mehr ungehindert hereinscheinen, sondern mute sich fr wenige Stunden des Tages mit der Fensterffnung begngen, um die Rume zu erhellen.
Ein eigenartiges Gefhl stellte sich auch beim Laufen ber die weichen Wollteppiche ein, mit denen der ganze Fuboden belegt war. Es war ganz anders als im Glashaus auf dem feuchten Erdboden, wo man bei jedem Schritt Sand und Steinchen unter den Schuhsohlen fhlte.
Weil aber, wie gesagt, die Wnde so gnzlich undurchsichtig waren, da graue Schatten in allen Rumen lagen, strichen Sibylles Eltern alle Wnde mit dem reinsten Wei, kauften ausschlielich weie Mbel, weie Teppiche, weie Vorhnge, und die Mutter stellte in alle Ecken, auf alle Tische vielfarbige Blumenstrue aus dem Glashaus.
Sibylles Vater konnte auf dem Balkon seiner Arbeit nachgehen und den Lauf der Gestirne beobachten.
5. KAPITEL
Von Schwierigkeiten und deren Beseitigung
So wre in dem neuen Wohnhaus am Fluufer alles seinen ruhigen Gang gegangen, htte Geinis Sippe nicht die zehn bissigen Hunde gehabt. Die liefen den ganzen Tag wachsam vor dem Gebude hin und her und lieen keinen Fremden ins Haus, nicht einmal die neuen Einwohner des ersten und des zweiten Stockwerks.
Was hinter dem Haus vor sich ging, das scherte sie wenig. Sie bewachten den Eingang.
Familie Fanglinger, gewohnt, schwierige Situationen zu meistern, lie sich durch die Hunde nicht aus ihrer Ruhe bringen. Sie beschaffte sich ohne viel Mhe eine lange Leiter, lehnte sie vom Ufer aus an ihren Balkon und stieg vergngt darauf in die Wohnung. Bis zum ersten Stock brachte dies wirklich keine sonderlichen Schwierigkeiten mit sich. Zudem konnte man nie wissen, wie sich eine derartige Fertigkeit im Ersteigen von schwankenden Leitern einmal im Beruf anwenden liee.
Bedeutend schwieriger gestaltete sich das Problem fr Sibylle und ihre Eltern. Eine Leiter bis zum zweiten Stockwerk zu legen, war zu gefhrlich, ganz abgesehen von der Tatsache, da ein solches Ungetm nicht aufzutreiben war.
Es gab ein wenig Arger mit Geinis Familie, bis Sibylle die Lsung fand:
Wurde sie von den zehn bissigen Ktern erblickt und gejagt und hatte sie zugleich groe Sehnsucht nach ihrem weien Heim, dann kletterte sie behende die alte, schrgstehende Trauerweide neben dem Haus hoch, auf der hchsten Spitze breitete sie die Arme aus und flog ganz einfach auf ihren Balkon hinauf.
Fehlte eines von beidem, die Not oder die Sehnsucht, gelang es ihr nicht. Nur so ging es.
Die Eltern lernten das bald von ihr, und so standen die drei Familien im besten Einvernehmen miteinander.
II. TEIL
l. KAPITEL
Von der ersten Begegnung der drei Kinder
Zum erstenmal waren die drei Kinder Geini, Gauni und Sibylle einander am Fluufer begegnet. Jedes von ihnen war mit dem beschftigt, was ihm den meisten Spa bereitete. Geini stand am Ufer und fischte mit einer selbstgebastelten Angelrute. Die vielen Arten von Fischen hatten es ihm angetan. Ein solcher Fischreichtum war in einem gewhnlichen Flu nun auch tatschlich eine Seltenheit. Geini sprach kein Wort, beobachtete nur aufmerksam seinen Schwimmer, den er aus einem Stck Flaschenkork hergestellt hatte. Hin und wieder blinzelte er zu den beiden anderen Kindern hinber, die allem Anschein nach im gleichen Haus wohnten.
Gauni streunte am Ufer umher und suchte nach schnen Dingen, die andere dort vielleicht verloren hatten. Denn das war die theoretische Seite der Ausbildung, die seine Eltern ihm angedeihen lieen: Nicht nur Verstndnis fr schne Dinge (wenn mglich fr solche, die nichts kosteten) zu erwerben, sondern auch die Lust, immer mehr davon zu besitzen. Manchmal hielt er im Suchen inne, setzte sich ins Gras und fhrte Fingerbungen und Lockerungsbewegungen fr Handgelenk, Ellbogen und die einzelnen Finger durch.
Sibylle sa im Ufergras, die weichen Zweige der Trauerweide streichelten sie bei jedem kleinen Luftzug. Die blonden Haare fielen ihr reich ber die Schultern. Es sah aus, als se sie unter einem kleinen, spitzgiebeligen, gelben Dach. Sie hielt die Arme um die Knie geschlungen und sah den beiden Jungen zu. Von Geini schaute sie immer rasch fort, es behagte ihr nicht, da er fischte. Sie konnte den Gedanken schwer ertragen, da die Tiere erst mit guten Bissen angelockt und dann aus ihrem Lebenselement gezogen werden sollten. Aber sie verlor darber kein Wort und bemhte sich, ihren Unwillen zu verbergen. An Geini mifielen ihr auch seine rmlichen Kleider, und berhaupt begriff sie wenig von alldem, was mit Geini und seiner Familie zusammenhing.
Dann sah Sibylle eine Weile dem anderen Jungen zu, den seine Eltern Gauni riefen. Der machte einen bedeutend besseren Eindruck auf Sibylle. Sie bewunderte seine Ausdauer bei den Fingerbungen und fragte sich, was fr ein Musikinstrument er wohl spielen mochte oder wofr sonst er so viel Flei und Mhe aufwandte.
Vielleicht war es nur ein Zufall, da Geini und Gauni im gleichen Augenblick Erfolg hatten. Geini zog einen zappelnden Fisch aus dem Wasser, Gauni zog ein silbrig glnzendes, kleines Messer aus einem Schutthaufen hervor. Whrend Geini seinen Fisch vom Angelhaken lste, suberte Gauni seinen Fund von Erde und Staub. Im gleichen Augenblick kamen die beiden Jungen von rechts und links auf Sibylle zu, stellten sich wie verabredet zu beiden Seiten von ihr auf und boten ihr an, was sie anzubieten hatten: Geini seinen Fisch und Gauni das kleine Messer.
Er ist aus Silber, sagte Geini und hielt ihr den Fisch vor die Nase. Willst du ihn haben?
Willst du es haben ? fragte Gauni, hielt ihr das Messer hin und fgte hinzu: Es ist aus Silber.
Sibylle sah von einem zum ndern. Danke, sagte sie zu Geini, ja, ich mchte den Fisch haben. Behutsam nahm sie das zappelnde Lebewesen aus der Hand des Jungen, rannte ans Ufer und warf es ins Wasser zurck. Der Fisch beschrieb einen glitzernden Bogen, tauchte in die Wellen und war verschwunden.
Eine Weile war Geini auerstande, etwas zu sagen. Schlielich gelang es ihm, mit zischender Stimme zwischen den Zhnen hervorzubringen:
Was fllt dir ein ? Einen Fisch, den ein anderer mit Mhe und mit Geduld gefangen hat, ins Wasser zurckzuwerfen ...
Hast du nicht gehrt? fragte Sibylle.
Was htte ich da viel hren knnen ?
Hast du nicht gehrt, wie er rief, la mich zurck ?
Geini stellte fest, da er hierauf keine Antwort wute. Er lief an den Flu zurck. Unterwegs spuckte er dreimal hinter sich aus, damit Sibylles Dummheit sich nicht auch auf ihn bertrug, dann stellte er sich auf einen Stein, der aus dem Wasser herausragte. Um ihn herum wimmelte und glitzerte es von Fischen. Geini horchte zum Wasser hin. Nein, alle waren stumm, auer dem einen, der mit Sibylle gesprochen hatte. So ein Bldsinn. Seine schwarzen Locken funkelten in der Sonne, weil er vor Wut mit dem Kopf wackelte.
Unterdessen hatte Gauni sein silbriges kleines Messer wieder eingesteckt. Wie hatte er nur daran denken knnen, es dem fremden Mdchen zu schenken, mochte es tausendmal im gleichen Haus wohnen! Es war wohl besser, er erzhlte den Eltern nichts davon. Nun lief er zu Geini und stellte sich neben ihn. Wohnst du auch da? Mit dem Kinn wies er auf das neue Haus am Fluufer. Im Erdgescho߫, antwortete Geini. Ich im ersten Stock. Wie heit du ? Sie sagten einander ihre Namen, dann fragte Gauni: Weshalb haltet ihr so viele Hunde ?
Geini sah ihn verstndnislos an. Weil sie uns gehren, sagte er schlielich. Warum fragst du nicht nach unseren Hhnern oder nach den Schweinen ? Von denen haben wir noch mehr als von den Hunden.
Es ist nur, weil die Hunde uns nicht ins Haus lassen. Was habt ihr gegen uns ?
Nichts, sagte Geini. Aber ihr geht doch in eure Wohnung. Wie ?
Wir haben eine Leiter, teilte Gauni mit.
Dann ist es in Ordnung. Damit war der Fall fr die beiden Jungen erledigt.
Danach fragte Gauni den neuen Freund: Und sie, wie kommen sie ins Haus? Er machte eine Bewegung zu Sibylle hin. Wohnen sie nicht im zweiten Stock?
Ich glaube, sie fliegen, sagte Geini hierauf. Wollen wir sie fragen? Komm.
Die Jungen setzten sich zu Sibylle unter die Weide. Der eine rechts, der andere links. Zunchst sagten sie nichts. Sibylle, ans Alleinsein gewhnt, wute auch nicht recht, was sie htte sagen knnen. Was tat man, wenn pltzlich zwei Kinder neben einem saen? Verstohlen guckte sie unter ihrem Haardach hervor, bald zu Geini, dann wieder zu Gauni. Gauni roch gut und war sauber bis zu den Fingerngeln hin. Geini stak in total durchlcherten Kleidern und roch schlecht. Auch gewaschen hatte er sich wohl seit langem nicht mehr.
Irgendwann tat Geini als erster den Mund auf und erkundigte sich: Wie heit du ?
Ich heie Sibylle.
Das Eis war gebrochen. Wohnst du auch hier? fragte Gauni.
Sibylle nickte.
Das ist der Gauni, stellte Geini seinen neuen Freund vor.
Sibylle dachte die ganze Zeit, wenn der mir jetzt wieder sein Messer anbietet, was soll ich dann nur tun? Ich brauche das doch nicht.
Gauni bot ihr das Messer nicht noch einmal an, obwohl er es aus der Tasche zog und die Sonne darauf spielen lie. Schlielich sagte er: Das ist der Geini, Sibylle.
Nun wute Sibylle, wen sie neben sich im Gras sitzen hatte. Als sie noch ein wenig geschwiegen hatten, wurde es ihr zu dumm, sie stand auf und sagte: Ich mu jetzt nach Hause.
Da die beiden Jungen sich einen bedeutungsvollen Blick zuwarfen, merkte sie nicht mehr. Gauni sagte schnell: Du mut nach Hause? Du kannst ja gar nicht! Die Hunde lassen dich nicht ins Haus.
Ich kann doch, gab Sibylle zur Antwort. Wie machst du das ? Sibylle schwieg.
Sie fliegt, antwortete Geini an ihrer Stelle. Sibylle fhlte sich bedrngt. Was wollten diese fremden Jungen von ihr? Was wollt ihr von mir? fragte sie.
Geini begriff, da Sibylle Angst vor ihnen hatte. Er sagte: Hab doch keine Angst, Sibylle. Wir tun dir nichts. Wir wollen deine Freunde sein.
Sibylle sah lange auf Geini. Dabei dachte sie an die vielen Blumen im Glashaus und an die unzhligen Sterne, die man durch Vaters Fernrohre sah. Sie dachte daran, wie schn es im Glashaus gewesen war, wie herrlich das All anzusehen ist. Aber immer allein war sie da gewesen, und im All war berhaupt niemand, nur Himmelskrper. Hier, im neuen Haus, gab es Menschen. Zwei von diesen
Menschen wollten ihre Freunde sein. Durfte sie ihnen trauen?
Pltzlich war ihr alles klar: Blumen und Sterne waren schn, aber eine Freundschaft mit Menschen bedeutete mehr. Boten sich einem Menschen als Freunde an, so durfte man glcklich sein. Und sie hatte gleich als erstes Geinis Geschenk, den silbrigen Fisch, fortgeworfen.
Verzeih, Geini, sagte sie. Ich meine, das mit dem Fisch.
Es ist gut, erwiderte Geini. Dann wollte Sibylle den Freunden entgegenkommen: Ihr habt vorhin gesagt, da ich fliege. Kannst du es wirklich ? Natrlich.
Bring es uns auch bei, bat Gauni. So sehr das Fliegen seinen Eltern in ihrem Diebsberuf auch zustatten kme in diesem Augenblick dachte Gauni wirklich nicht daran. Er wollte nichts anderes, als einem Schmetterling gleich durch die Luft gaukeln knnen. Ganz ohne Hintergedanken, ganz ohne Berechnung bat er noch einmal:
Lehr es uns doch auch, Sibylle.
Sibylle mute ziemlich lange berlegen, ehe sie hervorbrachte: Ich wei nicht, wie das mit dem Fliegen ist, ich meine, wie ich es zustande bringe. Ich kann es einfach.
Denk nach, Sibylle, denk gut nach! Gauni wurde eindringlich.
Sibylle schwieg. Sollte sie nun die beiden Jungen, ihre allerersten Freunde, sofort wieder verlieren, nur weil sie ihnen nicht erklren konnte, wie sie flog?
Was tust du als erstes? drngte nun auch Geini. Als erstes ...
Sibylle sprach wie im Traum, weil es ihr bis zu diesem Augenblick tatschlich noch nie ins Bewutsein gedrungen war, wie sie es zustande brachte, sich von der Trauerweide aus in die Luft zu erheben, als erstes habe ich Angst vor euren Hunden, Geini. Die wollen mich nie ins Haus lassen, das weit du doch. Und nachher ?
Sibylle schlo die Augen und versuchte sich alles zu vergegenwrtigen, was sich in ihr zutrug, ehe sie flog. Ja, sagte sie schlielich, ich habe dann auch immer so Sehnsucht nach oben. Aber es mu beides sein: die Angst vor den Hunden, das Gejagtwerden und die Sehnsucht nach oben. Sonst geht es nicht. Du mut es uns beibringen. Gaunis Stimme klang anders als vorhin. Ein wildes Begehren machte sie hart. Du mut.
Schlagartig versetzte diese Stimme Sibylle in eine abwehrende Haltung. Ich werde meine Eltern fragen, ob sie es mir erlauben, versprach sie. Gleich darauf wute sie nicht mehr ganz sicher, ob sie die beiden Freunde wirklich behalten wollte oder lieber nicht.
2. KAPITEL
Wie Fridolin in die Kleine Stadt zum Jahrmarkt ging
Es war eine der letzten Sommernchte dieses Jahres. Fridolin sa auf der Bank vor der Blockhtte. Von der Berg-____ kuppe her klang das leise Brodeln der Schlammvulkane. Im Wald rief manchmal ein Nachtvogel, knackte zuweilen ein stchen unter den vorsichtigen Tritten irgendeines wilden Tieres.
In Fridolins Gemt herrschte Frieden. Er dachte an jenes selige Gleiten wie auf wunderbaren Klngen, unter denen er vor undenklichen Zeiten immer tiefer und tiefer geschwebt war und sich dann pltzlich hier neben Elmorck befunden hatte.
Fridolin wute um die Unterschiede, die ihn und den Gnom zugleich trennten und zusammenfhrten.
Elmorck hate, er selbst liebte. Elmorck wollte den Tod alles Lebendigen, er selbst suchte das Gefllte wieder aufzurichten.
Elmorck whlte im Schlamm, er selbst sang und formte wunderbare Gebilde aus dem Schlamm, der den Vulkanen entquoll.
Elmorck hatte bergroe, sehende, blaviolette Augen, er selbst war beinahe vllig erblindet von den kalten, beienden Dmpfen, die unaufhrlich aus den Vulkanen krochen, sein Augenlicht angegriffen und zerstrt hatten. Das einzige, was er noch gut und deutlich sah, waren die herrlichen Augen des Gnoms, die wie heller Flieder in die tiefe Dmmerung hineinleuchteten, die sich ber Fridolins Augenlicht gebreitet hatte.
Da kam Elmorck eilfertig von seiner Vulkanhalde herangerollt.
Fridolin, rief er schon von weitem, ich habe Hunger! Nein, verbesserte er sich, ich habe nie Hunger, wohl aber Appetit! Und ich wei, da du heute wieder etwas Gutes gekocht hast. Bring es mir heraus!
Fridolin brachte Elmorck das Verlangte. Elmorck a, schmatzte, prustete, verspritzte das Essen nach allen Seiten. Immer wieder sprang er auf und setzte sich auf eine andere Stelle. Mit Grasbscheln wischte Fridolin die Bank sauber.
Fridolin, schrie Elmorck, jetzt will ich trinken! Bring Wasser. Es war gut, hoho, das Essen war gut! Hast du noch Wrmkruter und rote Heizsteine? Nein? Dann mut du welche holen, mein Lieber! Du bist recht nachlssig geworden!
Fridolin hrte Elmorck zu, whrend er sich ber die Quelle beugte wie ber etwas Lebendiges. In seinem Herzen gab es keinen Groll. Bitte, Elmorck, sagte er dann, hier, deinen Trunk.
Hast du heute etwas Neues modelliert ? erkundigte sich der Gnom. Die Htte, die ganze Umgebung ist ja schon berst von demen komischen Kunstwerken. brigens habe ich heute die Krater gesubert und dir eine Menge toter Vgel herausgefischt. Es sind wieder ganze Scharen hineingefallen und darin erstickt, hihi, wie mich das freut!
Auch jetzt blieb Fridolin ruhig. Er wute, da er diesen Vgeln wieder zum Leben verhelfen konnte: In den starren, verkrampften, gebrochenen Klumpen ertastete er mit wissenden Hnden den Leib und die Bewegung des unglcklichen Vogels, formte dann aus grauem Ton dessen Ebenbild in schwereloser Bewegung, mit ausgebreiteten Schwingen, schenkte ihm so Leben und Freiheit wieder.
Schnaufend wischte sich Elmorck den Mund ab, befahl: Und jetzt, die Drehorgel! Hast du eine neue Weise erfunden? Hast du aus dem Vulkanschlamm wieder Metall gewonnen, um dir neue Pfeifen zu gieen? Hast du neue Lieder ersonnen? Der Klang deiner Drehorgel, Fridolin, der lt sich einfach mit nichts vergleichen!
Damit meinte Elmorck die Tne, die er aus seiner Umgebung kannte: das Prasseln des Regens, das Pfeifen des Windes, das Brodeln seiner Vulkane, Waldrauschen, Tierstimmen, pltscherndes Wasser der kleinen Quelle. Da der Klang der Drehorgel sich mit keinem dieser Laute vergleichen lie, darin hatte er recht.
Was aber wute er von den Musikinstrumenten, die es bei den Menschen gab? Was ahnte er vom Schluchzen der Geigen, vom Drhnen der Posaunen, vom Hmmern der Klaviere, vom groen gewaltigen Brausen der Orgeln? Und htte er auch etwas davon gewut: Keines dieser Instrumente lie sich mit der unendlichen Weichheit der kleinen Pfeifen der Drehorgel vergleichen. Jedoch etwas gab es, das denselben Klang hatte wie Fri-dolins Leierkasten. Das war das sanfte Klagen der Tonvgel, die Tpfer auf den Jahrmrkten feilhielten.
Spiel, Fridolin, spiel!
Fridolin gehorchte, er gehorchte gern, weil El-morck die Weisen der kleinen Drehorgel, die lauen Sommernchte und ihn selbst ber alles liebte. Er spielte lange. So lange, bis Elmorck neben ihm einschlief, von der Bank kollerte. Fridolin hob ihn auf, trug ihn auf seinen Armen ins Haus, bettete ihn liebevoll auf sein Lager. Um ihn nicht zu verstimmen, hatte er ihm nicht erzhlt, da er in aller Frhe aufbrechen wrde, um wieder auf dem Jahrmarkt zu spielen, der alljhrlich, wenn der Herbst begann, in der Kleinen Stadt gehalten wurde. Unsagbar leise schulterte er die Bilderrolle, die er zu seinen Gesngen brauchte, hngte sich die Drehorgel um, versah sich mit etwas Proviant und schickte sich an, zur Stadt hinunter zu wandern.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Fridolin den Tannenwald bereits hinter sich hatte und auf dem Wiesenrain talwrts ging. Sein Weg fhrte ihn ber Felder, durch Weiler. Auf den Weiden lagen behbig wiederkuend die Khe, vom Flu her schnatterten Enten und Gnse. Ob-46 wohl es noch sehr frh am Morgen war, herrschte in den Drfern und auf der Landstrae reges Leben. Von allen Seiten strmten Leute herbei, fuhren festlich gekleidet, singend und schwatzend, manche auch noch schlfrig vor sich hin dsend, auf ihren Pferdewagen zur Stadt. Einer nach dem anderen rollten sie heran, einfache Leiterwagen und vornehme Kutschen, wirbelten Staub auf, fuhren eilig davon, um rechtzeitig zum Jahrmarkt zu gelangen. Ein Jahrmarkt welch ein Ereignis fr die Menschen von damals; es gab keinen, der ihn sich entgehen lassen wollte.
Fridolin ging am Rand der Strae. Da er staubig und mde wurde, strte ihn nicht. Da manche der Vorberfahrenden ihm ein Wort, einen Gru zuriefen, ihn vom letzten Jahrmarkt her noch kannten, war ihm nichts Neues. Da keiner ihn einlud, aufzusteigen und mitzufahren, wunderte ihn nicht. Er geno das ruhige Ausschreiten, die Nhe vieler Menschen, war erfllt von der Erwartung des bunten Jahrmarkttreibens.
Um den Weg brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Sah er auch uerst wenig, so kannte er doch jede Wurzel, jede Felsklippe. Alle Windungen des Wegs waren ihm vertraut. Hatte er Hunger, legte er sich in den Schatten eines Strauches und strkte sich ein wenig.
Es war spter Nachmittag, als er die Kleine Stadt erreichte.
Langsam ging er am Fluufer entlang. Dies war, wie er gut wute, der krzeste Weg zum Markt-47 platz und zugleich fr einen beinahe vllig Blinden, wie er einer war, auch der sicherste.
Als er an dem neuen Wohnhaus am Fluufer vorberkam, wunderte er sich, da an einer Stelle, die er leer in Erinnerung hatte, in so kurzer Zeit ein groes Haus gebaut worden war. Es drang als breite, hohe, helle Flche in sein Sehen ein. Da sich aber drei Kinder erschrocken hinter dem schrgstehenden Stamm der alten Weide verbargen, sah er nicht. Ruhig ging er seines Wegs, immerzu auf seiner kleinen Drehorgel spielend.
Geini, Gauni und Sibylle lauschten betroffen der seltsam dudelnden Weise, die aus dem fremdartigen Instrument erschallte, musterten auch erstaunt das uere des unbekannten Wanderers. Die fahlen, graugrnen Haare, die unter der breiten Krempe seines Hutes zottig hervorhingen, seinen rotbraunen Umhang, die Rolle mit den Bildern, mit denen er seine Gesnge illustrierte, den prallen Schnappsack.
Vielleicht war es besser, sich von dem Alten nicht erblicken zu lassen. Dennoch folgten sie ihm wie gebannt, immer in Deckung hinter Bumen, Hecken und Husern, bis er sich endlich auf dem Marktplatz der Kleinen Stadt auf einen Randstein setzte, zunchst etwas a, dann schlielich wieder seiner Drehorgel die weichsten Melodien entlockte.
Bald wurde die Aufmerksamkeit der drei Kinder von tausenderlei anderen Dingen gefesselt. Staunend sahen sie dem bunten Treiben zu, das sich vor den Kulissen der alten, spitzgiebeligen Huserfassaden der tausendjhrigen Stadt abspielte.
Die behbige Ruhe der Stadt und ihrer Bewohner war dahin. Auf dem ganzen Marktplatz war ein ohrenbetubendes Hmmern, Sgen und Klopfen im Gange. Verschiedene Handwerker bauten ihre Verkaufsbuden auf, spannten sie mit wei-rot gestreiftem Segeltuch, stellten Tische hinein, auf denen sie am nchsten Tag ihre Waren ausbreiten und feilhalten wollten.
Fauchend nahmen einige Katzen Reiaus, als Leute auf ein Dach stiegen und mit viel Mhe und groem Geschrei zwischen dem Uhrturm und dem Schornstein eines Hauses ein dickes Seil ausspannen wollten. Darunter lief ein Mann mit Schelmenmtze und bunt kariertem Trikot aufgeregt hin und her und verursachte beinahe noch greres Aufsehen als die Mnner, die auf den Dchern hantierten. Aus den Reden und Zurufen der Umstehenden entnahmen Geini, Gauni und Sibylle, da dies ein weltbekannter Seiltnzer war, der am nchsten Tag auf dem Jahrmarkt seine gefhrlichen Knste darzubieten gedachte.
In der Mitte des Marktplatzes hatte sich ein Mann mit einem Stelzbein aufgestellt und versuchte heute schon, sozusagen zur Probe, seine Maschine in Gang zu bringen und Zuckerwatte zu spinnen.
berall hingen bunte Wimpel und Jahrmarktfhnchen. ber den alten Torbogen, von Schornstein zu Schornstein hatten waghalsige Kletterer sie angebracht. Unter einem Laubengang bereitete ein Trppchen Gaukler den klapprigen Leiterwagen vor, mit dem sie, von einem Eselchen gezogen, herbeigekommen waren und der ihnen morgen als Bhne fr ihr Marionettentheater dienen sollte. Mit durchdringendem Getriller auf einem uralten, fltenartigen Instrument suchte einer der Gaukler die Aufmerksamkeit der Vorbergehenden und Gaffer auf sich und seine Gefhrten zu lenken, um sich auf diese Weise das Publikum fr den nchsten Tag zu sichern.
Geini streckte seine Nase in die Luft, schnupperte, schlielich hatte er es: Kommt mit mir! rief er seinen beiden Freunden zu, in der Nhe riecht es nach etwas Gutem! Kommt! Tatschlich fhrte ihn der Geruch bald zu einer der grten Buden, die auf dem Marktplatz aufgestellt wurden. Im Augenblick stand sie noch leer, die Ware wrde morgen erst ausgelegt werden. Aber die Luft war erfllt von einem sen Duft nach Zimt und Anis, nach Nelken und Honig.
Hier waren die Lebkuchenbcker.
Morgen wird ein Jahrmarkt abgehalten, hauchte Sibylle.
Morgen in aller Frhe kommen wir her, bestimmte Geini.
Und morgen werde ich euch ein Kunststck vorfhren, versprach Gauni, ein Kunststck, das mir nicht einmal ein Schwarzknstler nachmachen kann! Mehr verriet er nicht. Keine Frage, kein Drngen konnten ihn dazu bringen, ein Wort mehr darber zu verlieren.
Sibylle nahm das bunte Geschehen auf ihre Art auf. Ihr schien, als se sie inmitten eines tiefen Schachtes, dessen Wnde aus lauter Tnen bestanden, die alle zugleich in ihr Ohr dringen wollten. Deshalb schlo sie die Augen und stellte sich auf einen besonderen Ton ein; tatschlich gelang es ihr, den aus dem Gewirr von Klngen zu entnehmen. Zunchst schlte sie einmal das schrille Pfeifen der Gaukler heraus. Dann suchte sie das leise Surren der Zuckerwattemaschine. Nein, das lie sich nicht finden, das war zu leise. Einzelne Stimmen lsten sich aus dem Ganzen. Sibylle versuchte sie zu ordnen. Da gab es deutlich die Rufe derer, die mit ihrem Seil immer noch nicht fertig waren. Sicherlich war es schwierig, ein dickes Seil an einem Ende um einen Turm und am anderen Ende um einen Schornstein zu schlingen, es straffzuziehen und fest zu verknoten. Hin und wieder mischte sich der Brummba des Tanzbren unter das Schreien, Rufen und Gepfeife.
Mit einem Gefhl der Sehnsucht stellte sich Sibylle dann auf den Leierkastenmann ein. Wenn sie die Augen schlo und alle anderen Gerusche fortdachte, so, als wischte sie sie mit einem Lappen von der Schultafel ab, dann wogten und schwankten ihr die dudelnden Klnge der kleinen Drehorgel deutlich entgegen.
Hrt ihr ihn? fragte sie die Freunde. Wen? Hier gibt es tausenderlei zu hren.
Den Leierkasten doch!
Umsonst spitzten Geini und Gauni die Ohren. Sie hrten alles, nur die Drehorgel nicht. Um sich nicht schmen zu mssen, lachten sie Sibylle dann aus, weil sie sich fr den alten, langweiligen Leierkastenmann mehr zu interessieren schien als, sagen wir, zum Beispiel fr den Seiltnzer mit seinem lebensgefhrlichen Beruf.
3. KAPITEL
Vom Jahrmarkt in der Kleinen Stadt und von Gaunis Migeschick
Als die drei Freunde nach unruhig und ungeduldig verbrachter Nacht am anderen Morgen sehr zeitig aufbrachen und ......... zum Markt liefen, wurden sie auf dem
ganzen Weg von immer noch endlos heranrollenden Pferdewagen berholt und in Staubwolken gehllt.
Schlielich gelangten sie hustend, verschwitzt und grau vor Staub zum Marktplatz. Welch ein Anblick!
Alle Buden strotzten von feilgehaltenen Waren, an den Wrstelstnden brutzelte es, aus der Honigkuchenbude duftete es, beim Fischstand war es ratsam, mit zugehaltener Nase einen Umweg zu machen.
Hunde liefen aufgeregt und hoffnungsvoll umher, Kinder staunten vor der Bude mit roten und weien, gestreiften und gepunkteten Gipskatzen und Gipshunden.
Dralle Dienstmdchen lieen sich von ihren Soldaten Ringe mit blutroten Glassteinen schenken oder suchten sich auch fr ihr eigenes karges Geld irgendein Schmuckstck aus, eine Haarnadel, eine glitzernde Brosche, eine Halskette.
Der Mann mit dem Holzbein spann an seiner summenden Maschine weie und rosarote Zuckerwatte. Daneben hatte eine Zigeunerin Platz gefunden, die mit Hilfe ihres hellgrnen, zerzausten Papageis den Leuten die Zukunft voraussagte. Der Papagei zog aufs Gratewohl Zettel aus einem Kstchen, auf denen die traurigen, lustigen, absonderlichen oder gewhnlichen Schicksale der Leute aufgeschrieben standen.
Ein Junge verkaufte Schimmyblle, die man an Gummistrippen auf- und abspringen lassen konnte. Man konnte sie aber ebensogut auf den Rcken anderer Leute knallen, wo sie zerplatzten, weil ihre Hlle nur aus hauchdnnem Kreppapier bestand. Eine solche Frechheit rief bei den Getroffenen Schrecken und Entrstung hervor, bei den Zuschauern Heiterkeit, und die Schimmyblle ergossen ihren Inhalt, nmlich Sgespne, auf das Pflaster.
Da Gauni sich aus dem Staub gemacht hatte, wurde von seinen Freunden nicht weiter beachtet. Als er aber ebenso pltzlich, wie er verschwunden war, wieder auftauchte und ihnen je ein Stbchen in die Hand drckte, staunten sie sehr. Zumal das Stbchen lecker und locker mit je einem riesigen rosigen Bausch Zuckerwatte umsponnen war. Und Zuckerwatte, die mu man kennen, um ,sie nach Gebhr wrdigen zu knnen! Kaum im Mund, zerging sie auch schon; und war der Happen, den man abbi, auch noch so gro, und whlte man das Gesicht noch so tief in die klebrige Masse bis man beinahe darin erstickte - man konnte den Geschmack der Zuckerwatte nur ahnen, weil einem im Handumdrehen alles auf der Zunge zerflo, bevor man dazu kam, es richtig zu schmecken. Und doch: ein unvergelicher Genu, das Gesicht lange und tief in das weiche, duftende, rosige Gespinst zu drcken, es zu riechen, es auf der Haut kleben zu fhlen, einfach zu wissen, da man Zukkerwatte auf dem Jahrmarkt gekauft hatte!
'Sibylle war die erste, der sozusagen das Herz stehenblieb, als sie bis an die Ohren in der Zuckerwatte steckte und ihr der Gedanke kam: Ja, Gauni, hast du denn so viel Geld bei dir, um fr uns drei Zuckerwatte zu kaufen?
Meine Sache, erklrte Gauni. Habe ich euch nicht versprochen, euch heute ein Kunststck vorzufhren ?
Geini befreite sich etwas mhsam aus dem rosigen Bausch: Kunststck, Zuckerwatte zu kaufen! spottete er.
Kunststck, sie eben nicht zu kaufen und doch zu haben! Mit diesen Worten warf Gauni sein suberlich abgeschlecktes Stbchen in die Luft und befrderte es mit einem Futritt geschickt in den Straengraben.
Sibylle fhlte, wie pltzlich ein Schwindel sie packte. Das ist ..., sagte sie. Also nicht gekauft und doch gebracht. Das ist ... Sie wollte sagen, das ist dann gestohlen. Aber sie brachte es nicht ber die Lippen, wand sich darum herum: Das ist, das ist dann, vielleicht bekommen. Bekommen.
Ein langer Seufzer zeigte, wie sehr dieser Gedanke ihr Erleichterung verschaffte.
Nein, Sibylle, antwortete Gauni, das ist weder bekommen noch gestohlen. Das ist ein Kunststck. Mein Kunststck. Er betonte jedes Wort einzeln und sehr genau. Denn heute zeige ich. euch, wie versprochen, wie man einen ganz gewhnlichen Jahrmarkt in einen Naschmarkt verwandelt. Kommt mit! Damit rannte er auch schon los.
Die Neugierde trieb Sibylle und Geini hinter ihm drein.
Kann er denn zaubern ? fragte Sibylle schnaufend, whrend sie ihm nachliefen. Geini antwortete ebenso schnaufend: Wei ich? Vielleicht kann er es.
Aber das kann ja niemand, gab Sibylle zu bedenken.
Du kannst doch auch fliegen, Sibylle, wendete Geini ein, was Sibylle sofort von der Mglichkeit berzeugte, da Gauni auch etwas hnliches konnte wie sie, nmlich zaubern.
Unterwegs blieb Sibylle vor dem Stand mit den Tpferwaren stehen. Lange stand sie da, verga Gaunis Kunststck, dachte nicht daran, da Geini auf sie wartete. Sie erinnerte sich an einen Tpfer, . der vor seiner Drehscheibe gestanden hatte.'Mit bloen Fen wirbelte er die Scheibe in wilden Kreisen, seine Hnde saugten und zogen aus einem Klumpen Ton die Form eines Kruges. Seltsam hatte es sie angerhrt und war ihr unvergelich geblieben.
Sie kaufte einen kleinen, tnernen Kuckuck, braun glasiert, mit bunten Blumen bemalt, die ffnung auf der Brust konnte mit dem Zeigefinger abwechselnd geschlossen und wieder freigelassen werden, wodurch beim Hineinblasen ein weicher Kuckucksruf erscholl. Fr Sibylle war ihr Kuckuck nicht irgendein totes Ding, ihr Kuckuck war ein lebender Vogel. Lebendig wie die Krge und Tpfe alle, die aus einem Klumpen Ton gewachsen waren, von der Hand des Tpfers geformt.
Schnell! rief Gauni in ihre Versunkenheit hinein, .hr doch endlich auf mit deinem blden Gepfeife! Komm sofort zwanzig Schritte zurck! Sibylle lie sich von Gauni mit fortreien, erstaunt stellte sie fest, da sie in einer Hand einen warmen, dick mit Staubzucker bestreuten Krapfen hielt. Das gehrt zum Zauber, redete Gaunis Stimme weiter, da ihr sofort zwanzig Schritte zurckrennt, sobald ich euch etwas gebracht habe! Benommen nahm Sibylle nachher rote pfel von Gauni an, dann warme Wrstchen, schlielich drngte Gauni sie und Geini in einen engen, schmutzigen Gang zwischen zwei Buden, wo sie dann zu dritt unter flatternden Jahrmarktfhnchen ein ganzes Glas Honig mit den Zeigefingern leer schleckten. Sibylle stellte fest, da bei diesem Geschft Geinis Zeigefinger betrchtlich heller wurde. Ihrer wurde rosig, und der von Gauni blieb, wie er war.
Da kurz darauf irgendwo vor den Buden ein Tumult entstand, da nach der Polizei gerufen wurde, da Gauni fehlte - dies alles merkte Sibylle erst, als Geini ihr zuraunte: Ich glaube, sie haben den Gauni beim Stehlen erwischt! Sie lie sich vom Freund voranschieben. Bald standen sie unter der gaffenden Menge und sahen Gauni, der von einem Ordnungshter mit Schnauzbart festgehalten wurde.
Was ist los? wollte der Polizist wissen.
Er hat gestohlen! schrie ein dicker Mann, sehen Sie, ein Kuchenherz hat er noch in der Hand! Hier!
Ist das wahr? erkundigte sich der Polizist, und Gauni heulte los: Ja, heulte er, aber ich hatte solchen Hunger, und es riecht hier so gut, und ich habe doch kein Geld, und ein einziges Kuchenherz, nur eins, und hier sind so viele ...
Nun waren damals und zu allen Zeiten die reichen Leute recht geizig, und der Lebzelter war ein reicher Mann. Aber ... wollte er nicht als hartherzig in unsere Geschichte eingehen, oder ist es so, da ein Mann, der den ganzen, lieben lag Kuchenherzen bckt und Kuchenpferdchen und Honigkuchenpuppen und se Pflastersteine und Mandelpltzchen, ein Mann, der schon von weitem nach Honig riecht, da also ein solcher Mann ganz einfach nicht anders kann, als einem hungrigen Buben zu einem gestohlenen Kuchenherz auch noch ein Kuchenpferd zu schenken, ein ber und ber mit dickem, wei-rosa Zuckergu verziertes Kuchenpferd ?
Der Lebkuchenbcker also schenkte Gauni noch ein Kuchenpferd zum gestohlenen Lebkuchenherz hinzu.
Erleichtert schnaufte der Polizist einmal unter seinem buschigen Schnauzbart auf, sagte: Das sollst du nicht mehr tun, und befrderte den Gauni mit einem sanften Futritt auf zehn Meter Abstand von der Honigkuchenbude.
Den Tonkuckuck in der Hand zu fhlen, glatt, rund, hineingeschmiegt in die Handflche, war ein Trost fr Sibylle, die nicht wahrhaben wollte, was sie soeben mitangesehen hatte. Sie wischte sozusagen wieder mit einem nassen Lappen die Erinnerung an Gaunis Migeschick fort und redete sich ein, da alles nur ein Irrtum gewesen war und da Gauni wirklich zaubern konnte.
Kannst du tatschlich zaubern? fragte sie ihn. Natrlich kann ich zaubern, lachte er, aber jetzt habe ich keine Lust mehr dazu, wenn ich so verkannt werde. Kommt zu den Schaubuden. Die drei Kinder verlieen die Verkaufsstnde und trabten durch einen schmalen, gewlbten Durchgang, der unter einem uralten Haus hindurch zu einem kleineren Platz fhrte. Ganz hinten war hell der Ausgang zu sehen. Der Wind hatte Stroh, weggeworfenes Papier, Bonbonhllen, Strippen, Hhnerfedern und anderes zusammengewirbelt und im Durchgang angehuft.
Gelassen stiegen Geini, Gauni und Sibylle darber hinweg und kamen zu den Schiebuden. Die waren leicht zu finden, denn aus jeder einzelnen ertnte schrille Musik, man hrte lautes Rufen, Knallen, Schreien. ber alldem flatterten die bunten Wimpel, und der Seiltnzer turnte bereits ber alle Kpfe hinweg auf seinem auf und ab schwankenden Seil. Manchmal schien es, als geriete er aus dem Gleichgewicht, dann schrien die Leute auf, und die Frauen hielten sich die Hnde vor den Mund. Die Augen hielten sie sich nicht zu, denn trotz der Angst, die ihnen in der Kehle sa, wollten sie es doch nicht verpassen, wenn er vielleicht abstrzte. Man bewunderte ihn allgemein, weil er kein Schutznetz unter sein Seil aufgespannt, sondern nur eine dnne Lage kleingeschnittenes Stroh aufs Pflaster gestreut hatte.
Wahrscheinlich hatte ihm das den Namen Strohschneider eingebracht. Aber vielleicht war es auch sein Familienname.
Whrend Sibylle bei einer Schiebude zusah, wie die Leute auf Blechtiere schssen, um Gipstiere zu gewinnen, drangen durch den allgemeinen Lrm abgerissene Klnge von Drehorgelmusik an ihr Ohr. Behende kroch sie den Erwachsenen, die an der Schiebude standen, unter den Beinen durch, da niemand ihr Platz machen wollte. Dann suchte sie so lange, bis die ununterbrochen wiederholte, traurige Weise sie zu dem Snger Frido-lin fhrte.
Fridolin stand ruhig neben einem alten Kastanienbaum und horchte auf die Schritte der Leute. Daran erkannte er, ob sie sich um ihn scharten, um sein Lied anzuhren, oder ob sie weitergingen.
Sibylle hob ihren Kuckuck an die Lippen und blies hinein. Whrend der Kuckucksruf erscholl, hatte Sibylle das dunkle Gefhl, als sei es derselbe Ton, der auch aus der Drehorgel kam, dieselbe Klangfarbe. Als gehrten ihr Tonvogel und die Drehorgel zusammen. Da beide aus der gleichen Masse entstanden waren, nur in anderen Arbeitsvorgngen, ahnte das kleine Mdchen nicht. Das war auch nicht wichtig.
Sie blies: Kuckuck! Kuckuck! Fridolin horchte auf und wendete sich in die Richtung, aus der der Ruf erklang.
Die Leute, die auf Fridolins Gesang warteten, murmelten rgerlich, weil sie Sibylles Pfeifen als strend empfanden.
Fridolin lchelte und antwortete Sibylle und ihrem Tonvogel mit hnlichen Klngen, die er aus seiner Drehorgel holte.
Pltzlich hatte Sibylle keine Angst mehr vor Fridolin. Da sie gestern vor ihm davongelaufen waren, hatte sie vergessen. In diesem Augenblick wute sie nur eins: Da dieser Snger, dessen Namen sie noch gar nicht kannte, von dessen Herkunft sie keine Ahnung hatte, da dieser Snger genau so war wie das, was in ihr drinnen, ganz tief drinnen, als wirklichste Wirklichkeit lebte.
4. KAPITEL
Vom Lied des Sngers Fridolin, von einem neuen Unfug, den Gauni anstellte, und wie Fridolin dadurch erst zu Schaden, dann zu Nutzen kam
Die Lieder, die Fridolin auf dem Jahrmarkt darbot, kamen nicht aus seinem Herzen. Ihm lag eine andere Art von _____ Kunst, allem Lauten fremd. Dennoch sang er alljhrlich auf dem Jahrmarkt Lieder, die den Dienstmdchen gefielen, die Waschfrauen und Kchinnen rhrten, die all jene verstanden, die Armut von daheim vertrieben hatte. Getrennt von allem, was ihnen bisher in ihrem Dorf vertraut gewesen war, kamen diese Mdchen in die Stadt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie schliefen in fensterlosen Hinterkammern, bedienten fremde Leute, die sie Herrschaft nennen muten, sehnten sich nach ihrem Dorf, in dem sie nicht bleiben durften, weil der Hof der Eltern nur einem der zahlreichen Geschwister vererbt werden konnte. Wehmtig dachten sie an die Abend-63 stunden am Dorfbrunnen, an die alten Lieder und Bruche, die ihnen nicht mehr gehrten.
Fridolin wute, was die vielen Dienstmdchen bewegte, die sich alljhrlich auf dem Jahrmarkt einfanden und seinem Gesang lauschten. Er sang ihnen von fremden Mdchen vor, er schilderte ihnen fremdes Schicksal. Ihr seid nicht allein. Immer hat es unglckliche Mdchen gegeben. Ich erzhle euch davon in eurer Sprache, singe euch davon in Weisen, die ihr versteht. Weint um das Los der fremden Mdchen, damit keiner euch nachsagen kann, ihr httet um euer eigenes Geschick geweint.
Leise leiernd bereitete er die Zuhrerschaft vor. Um ihn drngten sich Dienstmdchen, Soldaten, Kammerzofen, Waschmgde, Kchinnen aus wohlhabenden Husern. Und Kinder, sehr viele Kinder.
Sibylle lie sich von den Tnen des Leierkastens wie auf warmen Wellen tragen. Wie unter einem Schlag zuckte sie zusammen, als sie pltzlich merkte, wie starr Fridolin ber die Menschenmenge hinwegsah. Keine Bewegung fing seinen Blick ein, selbst dem Tanzbren, der unter dumpfen Trommelschlgen von seinem Herrn an den Wartenden vorbergefhrt wurde, sah er nicht nach. Starr blickte er geradeaus, wie es Blinden eigen ist.
Sibylles Stimme klang belegt: Ich glaube, er ist blind.
Kalt kam Gaunis Antwort: Meinetwegen. Andere sind auch blind. Aber er scheint obendrein stumm zu sein. Dann rief er: Jetzt reicht uns aber das langweilige Gedudel, Alter! Die Menge sah zu Gauni hin, viele Kpfe nickten. Sing doch endlich! riefen mehrere.
Das Klirren der Kette, die vom Nasenring des Tanzbren herabhing, entfernte sich, das scheppernde Klingeln und Trommeln des Tambourins verlor sich. Fridolins leise Klnge gewannen an Klarheit, an Lautstrke. Ich will euch heute eine neue, noch nie gehrte >Moritat< vorsingen, die traurige Geschichte von einem Ruber und seiner Braut.
Unter beiflligem Gemurmel begann Fridolin seinen Vortrag, wies dabei auf das erste Bild seiner Rolle, die er am rissigen Stamm der alten Kastanie befestigt hatte. Er sang mit lauter, klarer Stimme, die in Sibylle einen seltsamen Zwiespalt zwischen Bewunderung und Mitleid hervorrief. Wre er doch nicht blind, mute sie immer wieder denken, bis alles schwand und sie nur noch zuhrte.
An einem Bach, sang Fridolin,
in einem tiefen Tale, da sa ein Mdchen an einem Wasserfalle. Sie war so schn, so schn wie Milch und Blut, von Herzen war sie einem Ruber gut. Sie war so schn, so schn wie Milch und Blut, von Herzen war sie einem Ruber gut.
Mit der einen Hand drehte Fridolin den Hebel seiner Orgel, mit der anderen ertastete er vorsichtig den Baumstamm, dann die Bilder, die daran hingen. Das erste Bild stellte in dunklen Farben das tiefe Tal dar, durch das ein schumender Bach flo. Am Ufer sa ein schnes Mdchen auf einem Stein. Seine Miene war traurig und sehnschtig.
Sibylle hrte die Worte, die Fridolin sang. Sie sah die Bilder an, die Fridolin gemalt hatte, sah, wie seine Hand darauf zeigte. Sie kannte schnere Bilder, dennoch gab es da etwas, das sie sehr bewegte. War es Fridolins Stimme, war es die Drehorgel? War es das gespannte Warten der Umstehenden auf die Fortsetzung der Moritat? Oder war es einfach Fridolin selbst, der Sibylle beeindruckte ?
Ihr anfngliches Mitleid mit dem blinden Snger ging in ein Staunen ber, und whrend Fridolin weitersang, packte es sie so, wie es ihr jedesmal zumute war, bevor sie flog: Sie wurde ganz leicht, alle Angst fiel von ihr ab, sie schwebte, sie flog ... nein, diesmal flog sie nicht, oder vielleicht doch, sie wute es nicht ganz genau, eins aber war sicher: Sie stand nicht mehr unter der Kastanie. Sie kauerte am Bachesrand, ganz in der Nhe des schnen, traurigen Mdchens, sie hrte es seufzen, hrte den Bach rauschen, sah die Blumen am Ufer, es waren gelbe, groe Dotterblumen, von denen einige zu nahe am Wasser wuchsen, und die Wellen schlugen darber hinweg und bewegten sie. Es roch nach Wald, es war warm.
Wie durch einen Schleier drang zugleich der Gesang Fridolins in ihr Bewutsein. Aber es war gar nicht mehr Fridolin, der da sang, sondern es war eine unbekannte, tiefe Mnnerstimme, die berraschend nahe klang:
Du armes Mdchen, mich dauert deine Seele ...
Aus dem Gebsch brach ein Fremder. Zerlumpt, bis an die Zhne bewaffnet. Seine Augen blitzten, er bewegte sich rasch und sicher. Mit festen Schritten trat er zu dem Mdchen.
Sibylle erschrak. Wer war dieser Mann, was wollte er von dem Mdchen, das ohnehin traurig genug war? Und sie selbst, war sie etwa auch von ihm erblickt worden? Unendlich vorsichtig suchte Sibylle, sich hinter einem Strauch zu verbergen.
Der Zerlumpte sah genau in ihre Richtung. Da hielt sie in ihrer Bewegung inne, hielt ganz still. Es schien, als she er sie nicht, als schaute er durch sie hindurch wie durch Glas.
Und er sang, vielleicht aber sang auch gar nicht er, sondern der halbblinde Fridolin. Sibylle vermochte es nicht mehr zu unterscheiden:
Du armes Mdchen, mich dauert deine Seele, denn ich mu fort in meine Ruberhhle, wo wir dereinst so glcklich wollten sein, jedoch es mu, es mu geschieden sein.
Das schne Mdchen warf sich dem Mann in die Arme und weinte sehr laut. Sibylle fhlte, da ihre Augen sich auch mit Trnen fllten, ringsum hrte sie Schneuzen, Seufzer. Wie, waren auer ihr auch andere noch in das tiefe Tal gekommen, in dem sich Fridolins Moritat abspielte?
Wie aus einem Wasser tauchten Sibylles Blicke auf und fanden zurck auf den Jahrmarkt. Sie stand mitten unter den Dienstmdchen und Waschmgden, die Kchinnen waren dick und rochen nach Zwiebeln. Alle waren sehr traurig und bemitleideten das arme Mdchen.
Wo wir dereinst so glcklich wollten sein, jedoch es mu, es mu geschieden sein, wiederholte Fridolin.
Jetzt war es eindeutig Fridolin, der sang.
Wie ein Miton erklang pltzlich eine kalte Mnnerstimme. Sibylle sah einen lteren Herrn, der ein sehr gelehrtes Gesicht machte und verchtlich zu der Dame an seiner Seite sagte: Ein Lied, das man hierzulande >Moritat< nennt; wie geschaffen fr niedriges Volk, fr Dienstboten und Waschweiber. La uns gehen, meine Liebe. Ein solcher Gesang beleidigt die Ohren.
Damit drngte er sich selbst und auch die Dame an seiner Seite an Fridolin vorbei. Die reich gerafften Rcke der Frau rauschten ein wenig bei jedem Schritt und schabten ber das blaue Pflaster.
Fridolins Stimme legte sich wie eine khlende Hand auf den rger, der in Sibylle hochsteigen wollte, und fhrte sie zurck in das tiefe Tal, wo der Zerlumpte, Bewaffnete seiner Liebsten einen Ring an den Finger steckte:
Nimm diesen Ring, und sollte jemand fragen, so sprich, ein Ruber habe ihn getragen, der dich geliebt bei Tag und auch bei Nacht und der schon viele Menschen umgebracht. Der dich geliebt ...
Lachen gluckerte auf.
Ein Junge kletterte grinsend am Stamm der Kastanie hoch, lste die Bilder vom Nagel. Spttisch ahmte er die Bewegungen des Sngers Frido-lin nach, dann rutschte er wieder herunter und stahl sich mit der ganzen Bilderrolle davon.
Der dich geliebt bei Tag und auch bei Nacht, und der schon viele Menschen umgebracht.
Ahnungslos wies Fridolin auf den leeren Stamm. Auf die Stelle, wo er die Bilder wute, die bis vor wenigen Augenblicken noch dort gehangen hatten.
Die Dienstmdchen weinten nicht mehr. Sie genossen die unerwartete Abwechslung, die sich ihnen bot. Ob man weinte, ob man lachte war das nicht einerlei? Wenn es nur etwas zu erleben gab, das einen aus dem den Alltag ri.
Fridolin merkte, da seine Zuhrer nicht mehr bei der Sache waren. Er hrte Kinder johlend davonlaufen, Dienstmdchen kichern. Was geschehen war, wute er nicht. Er wollte warten, bis die Aufmerksamkeit seiner Zuhrer sich ihm wieder zuwenden wrde, und drehte ruhig seine Orgel.
Vor Sibylles Augen verschwamm das Bild des tiefen Tales und der beiden Menschen, die voneinander Abschied nahmen. Schlielich sah sie nichts anderes mehr als einen sehr dicken, schwarzen Strich, der sich von oben nach unten ber das Bild zog. Nach einer Weile erkannte sie in dem schwarzen Strich den dunklen, rissigen Stamm der alten Kastanie. Fridolin zeigte hilflos darauf und versuchte eine weitere Strophe, die aber von lautem Lachen bertnt wurde. Seine Rechte bettigte den Hebel der Drehorgel so mutlos, da ihr anstelle der weichen Melodie nur ein Pfeifen und Jaulen entwich, wie man es im Mai von den Dchern hrt, wenn Katzen Hochzeit halten.
Weshalb lacht ihr ... Fridolins Stimme klang unsicher und enttuscht. Mit einer unvorsichtigen Bewegung entlockte er seinem Instrument ein weiteres Heulen, auf das die Umstehenden mit lautem Jubel antworteten.
Betroffen suchte er seine Bilder, tastend am Stamm der Kastanie. Er wollte sie herabnehmen und fortgehen. Das schien im Augenblick das einzige zu sein, das ihm briggeblieben war. Gedemtigt davongehen. Seine Hnde fanden den Stamm leer. Er tastete sich bis zu dem Nagel hoch. Da begriff er, da jemand ihm die Bilder entwendet, da er die ganze Zeit ber nur auf die leere Baumrinde gewiesen hatte.
Lachend, zufrieden zerstreute sich die Menge.
Ebenso bereit wie anfangs zum Weinen, waren die Leute jetzt bereit zum Lachen. Keiner achtete mehr auf den alten Mann, der sich schweigend neben den Kastanienbaum gekauert hatte. In dem Hut zu seinen Fen lagen zwei billige Kupfer-71 mnzen. Die grauen Haare hingen ihm wirr ber die blinden Augen.
Fridolin sa in sich versunken da und versuchte, das soeben Vorgefallene zu begreifen. Er fand keinen Grund fr das Entwenden seiner Bilder. Wahrscheinlich htte er Verstndnis gezeigt, htte ihm einer verraten, da das ein Junge aus bloem bermut getan hatte. Er htte in ihm die Art seines Gefhrten Elmorck erkannt, htte ihn zu verstehen gesucht.
Nun sa er da, an den Stamm gelehnt, die Augen starr geradeaus gerichtet. Er streichelte seine alte Drehorgel, als sei sie ein krankes Tier. Als sei die Schande ihr und nicht ihm selber widerfahren.
Vor Fridolin stand ein kleines Mdchen und sah ihn an.
Es war Sibylle. Sie war nicht mit den anderen davongegangen.
Geini war verschwunden.
Gauni tollte mit anderen Jungen. Er hieb ihnen die Bilderrolle, die er kurz vorher vom Kastanienbaum genommen hatte, ber die Kpfe.
Hatte er sie zu diesem Zweck gestohlen?
Keineswegs. Die Prgelei mit einer Anzahl fremder Jungen hatte sich nur am Rande ergeben.
Dann also weshalb ?
Weshalb Gauni dem Alten die Rolle fortgenommen hatte, darber dachte er keinen Augenblick lang nach. Vielleicht hatte er nur sehen wollen, was nachher geschah.
Er hatte nicht gesehen, was nachher geschah, denn er war mit der Rolle weggerannt.
Hatte er die Bilder gestohlen, um die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen?
Vielleicht deshalb.
Und was hatte er jetzt davon?
Nichts hatte er davon.
Gauni sah die Rolle an.
Sie war geknickt und verbeult, nachdem er sie als Waffe benutzt hatte. Er schleuderte sie in den nchsten Straengraben. Damit war der Fall fr ihn erledigt.
Sibylle hob ihren Tonkuckuck an den Mund und blies:
Kuckuck!
Fridolin horchte auf. Dann sagte er: Du bist also nicht mit den anderen fortgegangen. Es war nicht ganz deutlich, ob er Sibylle oder ihren Kukkuck meinte. Vielleicht war das auch nicht von Wichtigkeit.
Ich heie Sibylle, sagte sie.
Das ist ein schner Name, Fridolin redete ruhig und nickte. Ich heie Fridolin.
Das ist auch ein schner Name. Wie zur Besttigung lie Sibylle ihren Kuckuck rufen.
Fridolin horchte sehr aufmerksam zu, drehte dann vorsichtig am Hebel seiner Drehorgel und entlockte ihr geschickt zwei Tne, die ebenso klangen. Sibylle lie ihren Tonvogel weiter rufen, und Fridolin antwortete ihr jedesmal mit der Orgel. Beide Instrumente, das eine aus Ton, das andere aus Metall, aus dem Schlamm der kleinen Vulkane gewonnen, hatten den gleichen warmen Klang.
Dann sagte Sibylle:
Du mut dir neue Bilder malen, Fridolin.
Fridolin schwieg.
Da rannte Sibylle nach Hause und brachte ihren Zeichenblock, ihren Malkasten, ihre Pinsel. Mal neue Bilder, bat sie, Fridolin, mal jetzt neue Bilder, dann ist alles wieder gut. Sie setzte sich zu ihm aufs Pflaster, drckte ihm einen Pinsel in die Hand, stellte den Wassernapf vor ihn hin, hielt ihm den Zeichenblock vor, drngend, fordernd.
Ob ich das noch kann? Fridolin strich sich ber die Stirn. Meine Augen, weit du, Sibylle, meine Augen sind so schlecht geworden in der letzten Zeit.
Versuch es doch, bat Sibylle. Siehst du denn berhaupt nicht mehr?
Etwas sehe ich noch.
Mal dann das, was du siehst. Ich male auch immer nur das, was ich sehe. Was ich vor mir sehe oder was ich in mir sehe.
Das weie Papier schimmerte, von der Sonne grell beschienen, in die trben Augen Fridolins hinein. Er fhlte den Pinsel in seiner Hand, er roch die Farben im Malkasten. Jede Farbe war nicht nur Farbe, war bereits ein Stck jener Bilder geworden, die vor Fridolins Denken standen. Rot sah aus wie Blau, Grn wurde vor seinen trben Augen zu nebligem Grau, Braun vermischte sich in seinem Sehen mit Schwarz. Nur das Wei des leeren Papiers war da vor ihm und verlangte, zu einem Bild zu werden.
Aufs Geratewohl nahm er Farbe aus den Tiegeln.
Mit einer Bewegung, die etwas Feierliches an sich hatte, zog er langsam den Pinsel ber die weie Flche.
In einer anderen Farbe legte sich die nchste Linie neben die erste, eine dritte zog sich daneben hin. Farbtropfen, die aus dem Pinsel fielen, schlugen breit und von dnnen Strahlen umgeben auf die freien Flchen auf.
Fridolin dachte an alles, was in seinem Innern lebte.
Er hatte nicht im Sinn, seine verlorenen Bilder wieder zu malen. Dazu eigneten sich weder Malwerkzeug noch seine Augen. Er dachte an Schnes, um Schnes zu malen.
So entstanden wirr und bunt durcheinander, neben- und bereinanderlaufende Linien, es ergaben sich aus den verflieenden Farben groe, seltsam bunte Flchen. Eigenartige Bilder entstanden, wie Sibylle noch nie welche gesehen hatte, obwohl sie viele berhmte Gemlde aus den Bchern ihres Vaters und auch aus dem Museum kannte.
Viele Leute schlenderten an ihnen vorbei. Es gab ein wogendes Auf und Ab von Fugngern, Kaleschen, Verkufern, die ihre glitzernde Ware, Spangen, Ringe und anderes mehr, aufTragebrettern vor den Leib geschnallt, mit lautem Rufen zum Verkauf anboten. Niemand achtete aufFrido-lin und auf das kleine Mdchen, das neben ihm auf dem Pflaster sa. Keiner blieb stehen, um ihm zuzusehen. Vielleicht, weil seine Bilder weder lustig noch traurig noch von lauter, schriller Musik begleitet waren.
Fridolin fllte Blatt um Blatt. Immer sicherer zog er den Pinsel ber die Flche, immer eigenartiger wurden die Farben und die Formen.
Sibylle sah ihm zu. Manchmal blies sie ein wenig auf ihrem Tonkuckuck. Die fertigen Bltter beschwerte sie mit Steinen, um sie rings um den Kastanienbaum herum trocknen zu lassen. Wenn die Sonne darauf schien, leuchteten die absonderlichen Linien zauberhaft auf.
Langsam verging der Tag, verliefen sich die Leute. Die Auswrtigen muten trachten, noch vor der Dunkelheit ihr Dorf zu erreichen, das Vieh zu fttern, nach dem Rechten zu sehen. Die Dienstmdchen muten das Abendbrot richten, um ihre Herrschaft zufriedenzustellen. Die Kinder muten ins Bett, die Verkufer begannen, ihre Buden abzubrechen. Fridolin malte.
Um ihn war es still und beinahe menschenleer geworden. Nur hin und wieder kamen Leute vorbei.
Pltzlich rief jemand: Aber das ist ja unerhrt! Unwahrscheinlich! Das ist ja allerhchste Kunst, und wo? Hier, auf diesem armseilgen Jahrmarkt Wer sind Sie, guter Mann?
Fridolin gab keine Antwort.
Wer ist der Mann? wendete sich der Herr mit dem hohen Zylinder nun an Sibylle. Weil aber Fridolin seinen Namen nicht genannt hatte, sagte Sibylle auch nichts.
Mit fliegenden Rockschen eilte der Mann davon und kehrte sehr bald wieder; diesmal allerdings stieg er zusammen mit anderen Herren, alle mit Monokeln und Hochzylindern, aus einer Kalesche aus. Es waren die Kunstverstndigen der Landesakademie.
Mit staunender Ehrfurcht hoben sie seine Bilder vom Pflaster auf, sprachen darber mit Worten, von denen Sibylle wenig verstand, und schlielich mute sie zusehen, wie sie Fridolin dazu brachten, mit ihnen davonzufahren. Zur Kunstakademie! riefen sie dem Kutscher zu.
Sibylle blieb allein unter dem Kastanienbaum zurck. Sie wartete, bis die Staubwolke sich legte, die die Rder des eleganten Fahrzeugs aufgewirbelt hatten. Dann las sie ihren Malkasten vom Boden auf, suchte die Pinsel zusammen. Der Wassernapf war umgefallen und hatte sein dickes, graues Malwasser aufs Pflaster vergossen. Daneben lag die alte Drehorgel. Sibylle hob sie behutsam auf, betrachtete sie von allen Seiten.
Die Pfeifen kannte sie. Da aber das wurmstichige Gehuse mit lauter krummen, garstigen, troschhnlichen Mnnlein verziert war, das sah sie erst jetzt. Ihr wurde ganz unbehaglich bei diesem Anblick.
Dennoch hing sie sich die Orgel um und trabte mit ihr zur Kunstakademie. Man sollte sie dort Fri-dolin aushndigen. Sicher war er unruhig, solange er seine kleine Orgel nicht wieder hatte. Obwohl sie ohne Verzierungen schner gewesen wre, fand Sibylle.
Langsam verging der Tag.
Der Marktplatz, auf dem sich einige Stunden lang das laute, bunte Treiben abgespielt hatte, lag leer und schmutzig da. Ein verspteter Handwerker brach seine Bude ab, Straenkehrer stellten sich ein, Hunde suchten nach Essenresten, ganze Scharen von Sperlingen pickten sich satt.
Vom Kirchendach flogen die Tauben scharenweise herunter und halfen den Straenkehrern beim Subern des Platzes. Kam ihnen aber einer davon mit seinem Besen zu nahe, so flogen sie mit streichendem Flgelschlag wieder scharenweise aufs Kirchendach zurck.
In der Kunstakademie hatte man Fridolin auf einen Ehrenplatz gesetzt, vor ihm stand ein Tablett mit Tee und Leckerbissen. Whrend er langsam vom Tee trank, befragte man ihn ber seine Auffassung, die Malerei betreffend. Je undeutlicher er auf die Fragen antwortete, desto zufriedener schienen die Kunstverstndigen.
Einmal ging die Tr auf, es war eine hohe, braune Flgeltr mit Vorhngen aus dunkelgrnem Samt, zu beiden Seiten mit goldenen Schnren und schweren Quasten gerafft, ein Diener trat leise ein und brachte Fridolin die alte Drehorgel, legte sie vor ihn auf den Tisch, zog sich wieder zurck.
Fridolin strich ber seine Orgel, nickte, horchte zur Strae. Durch die hohen Fenster, die alle ernst geschlossen waren, drang Sibylles Kuckucksruf nicht.
Ob Fridolin nicht, da die Ausbildungskurse an der Akademie gerade begnnen, eine Lehrstelle hier annehmen wolle ?
Fridolin schlug sie nicht aus.
Bald hatte er viele junge Schler, die alle in die Geheimnisse seiner Malkunst eingefhrt werden wollten. Keiner von ihnen merkte, da er sie weniger im Malen als im Denken unterrichtete. Er lehrte sie, nicht nur die Dinge selbst zu sehen, sondern die Hand dessen zu suchen, der sie hervorgebracht hatte. Er brachte ihnen bei, das zu sehen, was die Dinge in sich trugen und in welcher Beziehung sie zueinander standen.
Bald war Fridolin in aller Munde.
Seine Bilder wurden berhmt, seine Aussprche wurden von Mund zu Mund weitergegeben. Jedermann wollte ein Bild von ihm haben, man kaufte und verkaufte sie, man versteigerte sie, man gab sie zu Wucherpreisen weiter.
Im Museum der Kleinen Stadt am Fluufer erhielt er einen Ehrenplatz in der Gemldegalerie.
Er malte immer leichter, immer mehr.
Nie malte er gedankenlos.
Er malte nicht Dinge, sondern Gedanken. Vor dem Tor seines Hauses standen die Leute in langen Schlangen und warteten auf ein Gemlde. Schlielich begngten sie sich auch mit wenigen Strichen aus der Hand des Meisters, die er, um nicht mehr so bedrngt zu werden, in Eile und Verwirrung auf die Leinwand geworfen hatte.
Verstaubt lag die alte Drehorgel mit den Abbildungen des Gnoms Elmorck zwischen zahllosen leeren Farbtpfen.
5. KAPITEL
Von den Racheplnen des Gnoms Elmorck
Das erste, was der alte, krumme Gnom tat, als er nach Wochen des Wartens erkannte, da Fridolin nicht nach Hause kehren wrde: Er stie zunchst gekrnkt, dann bse, schlielich wtend die sorgsam zwischen die Hausbalken gestopften Moospolster hinaus, damit er wenigsten den Wind in seiner Einsamkeit hrte, wenn der durch die Ritzen der Balkenwnde sang und pfiff.
Unter uns, er htte ja auch im Wald den Vgeln zuhren knnen, wenn es ihm ringsum zu still war, oder, denken wir einmal nach, was in einem Wald sonst noch zu hren ist: Der Wind rauscht und summt durch die Tannen, und die Quelle dringt murmelnd und gluckernd aus der Erde und sucht ihren Weg talwrts. Manchmal brechen ein Hirsch oder ein Reh durch das Gebsch, ste knacken. Grunzende, whlende Wildschweine hat es sicher in der Gegend auch gegeben.
In einem Wald ist es niemals ganz still.
Aber Elmorck hatte kein Ohr dafr.
Spter erinnerte er sich an Fridolins schmackhafte Speisen, und weil keiner da war, der sie ihm gebracht htte, stampfte er stundenlang mit seinen krummen Beinchen auf dem Boden herum. Dabei htte er nur in die Vorratskammer greifen mssen, die der halbblinde Fridolin reichlich versorgt hatte.
Als er erkannte, da auch das Stampfen nichts half, rannte er von Vulkan zu Vulkan und brachte alle zum berlaufen. Was natrlich genauso nutzlos war wie das Stampfen, weil es Fridolin nicht zurckbrachte.
Schlielich kauerte Elmorck sich neben seinen Lieblingsvulkan und dste vor sich hin. Von Zeit zu Zeit scho kalter Schlamm in Fontnen hoch, bergo ihn, klebte ihn am Boden fest, machte ihn im Laufe der Zeit zu einer grotesken Figur aus eisengrauem Ton. Er sah etwa so aus wie die Gebilde, die sich an den Kerzenwnden durch das herabtropfende Wachs formen.
Wochenlang verharrte er reglos.
Er verga seinen Hunger, er verga, die Vulkane zu schren. Er brtete ber einem einzigen Gedanken: Wie er sich an der Stadt rchen konnte, die am Fue seines Berges lag und die ihm den einzigen Gefhrten, den er je besessen hatte, so unerwartet raubte.
Denn es bestand kein Zweifel:
Fridolin war, wie alljhrlich, zum Jahrmarkt gegangen und war von irgendwelchen Menschen aus unerfindlichen Grnden in der Stadt zurckgehalten worden.
Ob freiwillig, ob gezwungen ?
Die Tr der Htte war offen stehen geblieben, der Wind schlug sie hin und her. Der warme Vulkan, der bisher als Herd gedient hatte, erkaltete, weil der Gnom Elmorck nicht mehr daran dachte, die wrmenden Krauter und roten Steine einzulegen.
Fchse und Wlfe stahlen sich in die Vorratskammern und vertilgten alles, was da an luftgeselchten Rehkeulen, geruchertem Wildschweinschinken, eingesalzenem Fleisch von Bergziegen hing.
Die Muse leerten den Steintopf, den Fridolin in langer, mhevoller Arbeit mit wohlschmeckendem Eichelmehl gefllt hatte; Murmeltiere und Hamster schleppten die getrockneten Suppenwurzeln zu ihrer Brut.
Den Gnom Elmorck scherte das alles nicht mehr. Zwar wute er Fridolins Kochknste zu schtzen, konnte aber ebensogut auch jahrelang ohne Nahrung auskommen.
Sein ganzes Denken war jetzt auf Rache gerichtet. Die Stadt, die seinen Freund fr sich behalten hatte, mute vom Erdboden verschwinden.
Er beschlo, durch wildes Stochern die Vulkane zum bersprudeln zu bringen und dann den berflieenden kalten Schlamm zur Quelle zu leiten. Anstelle des glasklaren Wassers sollte sich der giftige Schlamm als trge, lavaartige Masse zum Flu wlzen. Dort sollte er langsam ber die Ufer treten und schlielich die Einwohner der Stadt, die Huser und damit auch den treulosen Freund berschwemmen und ersticken.
Monatelang hockte der Gnom Elmorck zusammengesunken vor seinem besten Vulkan, umhllt vom zhen, dunkelgrauen Schlamm. Er regte sich nicht. Er geno die Bilder der Vernichtung, die in seinem Kopf entstanden.
6. KAPITEL
Von Flugversuchen
Von dieser Wendung der Dinge ahnten die drei Freunde Geini, Gauni und Si-bylle nicht das mindeste. Ihnen, und nicht nur ihnen, sondern allen Bewohnern der Kleinen Stadt war es unbekannt, da auf der hchsten Spitze der Berge, die rings um die Stadt lagen, die Schlammvulkane brodelten und kochten. Niemand ahnte etwas vom Dasein des Gnoms Elmorck oder davon, da Fridolin, der bereits in aller Munde war, etwas mit diesem froschhnlichen Wesen gemein habe.
Sibylle hatte sich eines Tages zu Fridolin in die Werksttte geschlichen, hatte sich durch ein zaghaftes Kuckuck zu erkennen gegeben, und von da an war sie ein tglicher Gast bei dem fast blinden Knstler. Stundenlang sa sie neben ihm und sah zu, wie seine alten Hnde die Leinwand verzauberten und wundersame Gemlde darauf entstehen lieen.
Fridolin ermunterte Sibylle, ihm von Dingen zu erzhlen, die sie ringsum sah. Etwa vom Geflimmer des Sonnenlichts auf den Wellen des glasklaren Flusses oder von den zarten Schatten, die die Blumen in der irdenen Vase an die helle Wand warfen.
Bei diesen Besuchen lernte Sibylle sehen, und nicht nur sehen, sondern auch denken.
Fridolin gab sich nie damit zufrieden, da sie ihm die einzelnen Gegenstnde beschrieb. Sie mute immer Zusammenhnge herausfinden, ob also das Grn des glasierten Tonkruges leuchtender wrde, wenn gelbe Blumen darin standen, oder erst, wenn sie ihn vor dunkelblauen Vorhang stellte. Ob die Bltter der Birke vor dem Haus durch das grelle Licht der Sonne schwarz oder eher durchscheinend wrden. Ob das Feuer im Kchenherd in der Dmmerung rot und am Tag gelb war und wie die Farben seines beklecksten Malerkittels aufleuchteten, wenn er das Ofentrchen ffnete, um einen Scheit Holz nachzulegen.
Sibylle liebte es ber alles, bei Fridolin zu sitzen und ber all dies nachzudenken. Manchmal blies sie ihm auch auf ihrem Tonkuckuck vor, whrend er malte. Den Kuckuck hatte sie immer bei sich, trug ihn in der Hand, so da es aussah, als hielte sie sich daran fest.
So verbrachte Sibylle ihre Zeit grtenteils bei Fridolin, fand sich aber auch immer wieder bei ihren Freunden am Fluufer ein. Dort erinnerte sie sich regelmig an die Ereignisse des letzten Jahrmarkts. Manchmal stieg das Gefhl der Bewunderung fr Gaunis Knste wieder in ihr auf. Alles aber schien hundert Jahre weit zurckzuliegen.
Da Sibylle oft bei den Spielen fehlte, wurde von Geini und Gauni zwar bemerkt, aber nicht als strend empfunden. Dennoch kamen sie eines Tages, als Sibylle wieder bei ihnen war, mit der Forderung:
Bring uns das Fliegen bei, Sibylle! Sibylle schwieg lange. Sie hatte Mhe, mit ihren Gedanken in die Wirklichkeit zurckzufinden, denn sie hatte gerade darber nachgedacht, was schner sei: das rasche Gleiten der Wellen oder die langsame Bewegung der herabhngenden ste der Trauerweide, unter der sie sa. Endlich sagte sie: Ich hatte euch das ja schon lange versprochen.
Wie machst du das ? drngte Gauni. Ich glaube, ich kann nur deshalb fliegen, weil ich mu. Weil vor dem Haus die Hunde sitzen und mich beien wollen. Htte ich keine Angst vor ihnen, knnte ich es wahrscheinlich nicht. Aber ich mu mich zugleich auch sehr zu mir hinauf sehnen. Das ist es.
Sie legte sich ins Gras zurck. Das Flimmern der Sonne auf den kleinen Wellenkmmen des Flusses setzte sich vor ihren geschlossenen Augen fort, wenn auch etwas blasser als in Wirklichkeit; dafr allerdings konnte sie dem farblosen Strahlen dann auch kleine Farbkrnchen aufsetzen, wenn sie wollte.
Du mut es uns beibringen! Gaunis befehleri-scher Ton ri sie aus ihren Trumen. Geinis Worte milderten den Schrecken: Es wre schn, Sibylle, wenn wir es auch knnten. Dann wurde seine Stimme bittend: Bring es uns doch bei.
Da stand Sibylle auf. Kommt, sagte sie, ich fhre es euch einmal langsam vor, und ihr macht mir alles genau nach. Sie ging vors Haus, dort erblickten sie die zottigen Wchter und hetzten sie sofort mit Geknurre und drohend gefletschten Zhnen die alte Weide hinauf. Auf der Spitze breitete Sibylle ganz einfach die Arme aus und flog ganz einfach auf ihren Balkon.
Noch einmal, verlangte Gauni. Es scheint wirklich keine Kunst zu sein. Jetzt laufe ich hinter dir drein und werde alles genau nachmachen. Los!
Sie gingen vors Haus, die Hunde wetzten heran, Sibylle sprang auf den Weidenstamm und flog hinauf. Gauni rannte hinter ihr her, doch stieg er nicht auf die Weide, sondern kletterte seine Leiter hinauf.
Zehnmal versuchten sie es, zehnmal milang es, obgleich es unendlich einfach aussah.
Dann wollte Gauni nicht mehr weitermachen, er schob Geini vor. Geini sagte: Es ist eigentlich sehr einfach, ich habe ganz genau zugesehen.
Sibylle zeigte es ihm also auch, aber keine zehnmal, sondern nur ein einziges Mal, denn Geini war zwar bis zur Spitze der Weide emporgelangt, obwohl seine Hunde ihn berhaupt nicht gehetzt hatten. Oben hatte er auch die Arme ausgebreitet, es war ganz einfach gewesen, wirklich. Leider war es ihm dann aber nicht mehr gelungen, sich in die Luft hinauf zu schwingen, und er war wie ein Stein auf den Boden gefallen.
Ganz einfach.
Sofort brllte er los, als stke er am Spie, denn sein linker Arm war gebrochen, sein rechter Knchel war verstaucht, und wer wei, wie viele Verletzungen er dazu noch hatte. Zudem waren seine Kleider zerrissen, und so lag Geini nun zerkratzt und ziemlich drftig bekleidet zwischen den Gnseblmchen im Gras und brllte laut.
Sibylle sah vom zweiten Stockwerk aus schweigend zu.
Gauni sah vom ersten Stockwerk aus schweigend zu.
Die zehn Kter sahen von ebener Erde aus schweigend zu.
Da kam die alte Pipa Rupa und trug Geini ins Haus, dabei murmelte sie sorgenvoll vor sich hin.
Nach drei Stunden hatte Geinis Jammern aufgehrt. Vielleicht war er tot.
Er war aber nicht tot, er war nur eingeschlafen. Die alte Pipa Rupa hatte ihn geschient, verbunden, hatte ihm Heilkruter aufgelegt und auch als Tee eingeflt, hatte neben und ber ihm Zaubersprche aufgesagt und hatte ihn in abgelegte Kleider seines nchstgreren Bruders gehllt. Daraufhin hatten die Schmerzen nachgelassen, und Geini war eingeschlafen.
Um diese Zeit trafen sich Gauni und Sibylle wieder hinter dem Haus am Fluufer. Sie unterhielten sich im Flsterton, aber nicht lange, weil sie bald nicht mehr wuten, was sie sich noch zuflstern konnten, wenn der dritte Freund nicht dabei war. Wenn sie vor allem noch gar nicht wuten, ob er berhaupt noch lebte.
An diesem Abend fragte Geinis Vater:
Was war los ?
Ich wollte fliegen lernen, berichtete Geini vom Bett her.
Das kann kein Mensch, erwiderte sein Vater und spuckte auf den Boden. La die Flausen und halte dich in Zukunft an unsere Bruche.
Sibylle kann es aber, beharrte Geini.
Das ist i h r Geheimnis, und wir haben unser Geheimnis, raunte Pipa Rupa ihm ins Ohr. Das wirst du eines Tages kennenlernen. Fr heute nur dies: Wer aus seinem Geheimnis entweicht, ist verloren.
Am gleichen Abend fragte Gaunis Vater:
Was war los ?
Wir wollten von Sibylle fliegen lernen, berichtete Gauni.
Das kann kein Mensch, stellte Gaunis Vater, Herr Fanglinger, fest und spuckte zum Unterschied von Geinis Vater nicht auf den Boden, weil er etwas auf gute Manieren gab.
Doch, Sibylle kann es, beharrte Gauni. Dann bring sie dazu, es dich zu lehren. Stell dir vor, wir, in unserem Beruf, und fliegen knnen ... nchtens ausgeraubte Huser, ein rasches Entfliehen bei einem Bankraub ...
Geini ist aber von der Weide gefallen, gab Gauni zu bedenken. Und du ?
Ich kam immer nur unsere Leiter hoch. Vielleicht besitzt Sibylle Flgel ..., grbelte der Vater.
Oder einen Apparat ..., dachte die Mutter und sagte es auch.
Untersuch sie, befahl der Vater. Nein, sagte der Sohn. Tut ihr das, wenn ihr wissen wollt, wie das mit Sibylles Fliegen ist.
Ja? hauchten beide wie aus einem Munde. Dann verla dich nur auf uns. Wir erledigen das.
Daraufhin schliefen sie beruhigt ein.
Am gleichen Abend fragte Sibylles Mutter:
Was war los ?
Geini ist von der Weide gefallen, berichtete Sibylle.
Wolltest du ihm das Fliegen beibringen ? Sibylle nickte. Und Gauni ?
Der kam immer nur seine Leiter hoch. Nun ja, gab die Mutter zu bedenken, zum Fliegen gehrt eben mehr als nur Technik. Was gehrt dazu ? fragte Sibylle. Ihre Mutter gab darauf keine Antwort. Sie wute: Wer erst einmal darber nachdachte und davon redete, der konnte es nachher wahrscheinlich nicht mehr. Auerdem bereitete es ihr schon seit lngerer Zeit Sorgen, da die anderen es eines Tages doch von Sibylle lernen knnten. Und dann? Dann war ihre Abgeschiedenheit, ihre Sicherheit, ihr Zuhause dahin. Und sie selber, der Sterngucker und Sibylle brauchten in diesem Leben, in diesem gemeinsam bewohnten Haus ihres Lebens, die Ruhe und das Fliegen dringender als das tgliche Brot.
Du solltest dich lieber nicht mehr mit den Jungen abgeben, schlug sie der Tochter vor.
Sibylle widersprach heftig: Sie sind aber meine Freunde! Dann stampfte sie einmal tchtig mit dem Fu auf den Boden, beruhigte sich aber sofort, bat um Entschuldigung, bettelte: La mich doch, bitte, Mama! Entscheide selbst, sagte ihre Mutter. Sibylle ging in ihren Spielwinkel, um darber nachzudenken. Je lnger sie nachdachte, desto deutlicher sah sie ein, da man Freunde nicht nur gewinnen mute, das war bei weitem nicht genug! Man mute sich auch sehr darum bemhen, sie zu behalten. Freunde zu haben: das Schnste, was ihr bisher widerfahren war.
Allerdings gab es Unterschiede. Freund war nicht gleich Freund. Konnte sie Geini und Gauni mit Fridolin vergleichen? Fridolin war mit nichts zu vergleichen. Fridolin war Fridolin.
Geini und Gauni aber waren trotzdem auch Freunde. Und Sibylle war bereit, sie zu behalten, und kostete es noch so viel Mhe.
7. KAPITEL
Von den blavioletten Glaskugeln, die auf dem Flu geschwommen kamen
Viele Wochen waren vergangen, seit der Gnom Elmorck unter der immer dicker werdenden Kruste aus langsam trock nendem Schlamm hockte und Racheplne ausbrtete. Aber auch nach Rache kann man nicht ewig sinnen - eines Tages packt selbst den Bsesten das heulende Elend. Elmorck weinte.
Einer Schildkrte hnlich sa er unter seinem Panzer, kroch berhaupt nie ans Tageslicht, hatte keinen Hunger, fand keinen Schlaf. Es war ihm einerlei, ob die Vulkane noch brodelten oder nicht; es kmmerte ihn wenig, ob seine Htte noch stand oder nicht.
Seine Gedanken kreisten nur um Fridolin, den einzigen Menschen, den er liebte, und um die Sommerabende vor der Htte beim weichen Spiel der Drehorgel.
Um Fridolin weinte er, um die Abende vor der Htte.
Seine Trnen quollen aus den violetten Augen, krochen trge und schwer ber die runzligen, herabhngenden Wangen, liefen ihm bers Doppelkinn, bahnten sich einen Weg ber die verschlammten Kleider und wuschen sich einen Ausgang frei am Fu der dicken, grotesken Hlle, unter der er sa.
Sie flssen den Berg hinab, fanden zur Quelle und strmten mitsamt dem klaren Wasser zu Tal.
So erreichten sie auch die Stadt am Fue des Berges.
Mit den Trnen, die der Gnom Elmorck weinte, war etwas Eigenartiges geschehen. Sie lsten sich im Quellwasser nicht auf, vielmehr schwamm jede einzelne Trne auf den Wellen wie eine glnzende Kugel, in deren Mitte strahlend, tot und zugleich lebendig, undurchsichtig und doch durchscheinend, ein blaviolettes Auge zu erkennen war. Wenn die Sonne aufs Wasser schien, ergab dies ein so ungewhnliches Bild, da die Einwohner der Kleinen Stadt in Scharen zum Flu strmten, um das Wunder zu sehen.
Gauni war schlielich der erste, der es wagte:
Er fischte eins der zahllosen schwimmenden Augen aus dem Flu und trug es nach Hause.
Als nichts geschah, als er weder erblindete noch eines pltzlichen Todes starb, als auch der Blitz nicht in sein Haus einschlug, taten die Leute es ihm nach. Bald gehrte es zum guten Ton, wenigstens eines der seltsamen glsernen Schmuckstcke im Haus auf der Kommode zu haben.
Es konnte nicht ausbleiben, da Sibylle eines Tages auch fr Fridolin eine dieser Glaskugeln aus dem Flu holte und sie ihm brachte.
Fridolin nahm sie entgegen wie ein Wunder. Nachdenklich hielt er sie in der offenen Hand, wog sie, wendete sie, sah lange darauf. Ihr Schimmer drang durch seine Blindheit, vor ihm war pltzlich alles lebendig, was zu den violetten Augen gehrte: Elmorck, die Blockhtte, der vertraute Wald, die vielen kleinen Schlammvulkane. Die toten Vgel, denen er in seinen Bildwerken wieder Leben verlieh, die Quelle, die allmhlich zum Flu wurde, dessen Wasser die Stadtbewohner tranken. Die alte Drehorgel mit dem vor Jahren entstandenen Schmuckfries aus Abbildern El-morcks, die schon so lange in einem Winkel verstaubte.
Als Fridolin immer noch schwieg und von Sibylle berhaupt keine Kenntnis nahm, blies die ihm ein gekrnktes Kuckuck ins rechte Ohr und trollte sich.
8. KAPITEL
Von Sibylle, die den Gemsemarkt in einen Naschmarkt verzaubern lernte
Einige Tage nach seinem milungenen Flugversuch kam Geini wieder ans Fluufer. Es tat ihm berhaupt nichts mehr weh. Die alte Pipa Rupa schien eine besonders gute Arztin zu sein; vielleicht konnte sie auch zaubern, was bei solchen alten Frauen, die immer noch Zpfe trugen und in den Zpfen Goldstcke eingeflochten hatten, ja nicht ausgeschlossen ist.
Sibylle sa, seit sie gekrnkt von Fridolin fortgelaufen war, auch wieder fter am Fluufer bei den Freunden. Sie wollte ihnen zeigen, wie sehr sie die beiden mochte, hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil sie den Jungen nie etwas von Fridolin erzhlt und weil sie sie immer noch nicht fliegen gelehrt hatte.
Komm, Geini, bot sie sich an, willst du es nicht noch einmal versuchen? Vielleicht lernst du es doch,'komm!
Geini antwortete: Meine Knochen waren ziemlich kaputt, Sibylle. Und auerdem hat meine Gromutter mir gesagt, das sei nichts fr uns.
Sibylle verstand nichts davon, fhlte aber, da etwas Wahres in Geinis Antwort lag. Dann bot sie Gauni an: Du vielleicht ?
Gauni wollte nichts lieber als fliegen lernen, wagte es aber nicht, nachdem er Geinis Sturz von der Weide gesehen hatte. Er schwieg eine Weile, dann schttelte er den Kopf. Nach fnf Minuten sagte er: Wir langweilen uns. Ein pltzlicher Einfall lie ihn aufspringen: Geini, komm, ich zeige dir, wie man Naschwerk zaubert! Mach nach! Er fhrte ihm einige Fingerbewegungen vor. Es erwies sich aber, da Geinis Gelenke nach dem Sturz noch viel zu steif waren.
Mach nach! forderte Gauni jetzt auch Sibylle auf.
Sibylle konnte die Bewegungen mit den Fingern nicht nur gut, sondern noch viel besser als Gauni selbst ausfhren. Die beiden Jungen wechselten bedeutungsvolle Blicke. Gut, nickte Gauni. Jahrmarkt ist heute zwar keiner, aber ein gewhnlicher Gemsemarkt tut's auch. Kommt.
Die drei Kinder trotteten auf den Marktplatz.
Geini trottete gleichgltig, er wute, da er heute nur Zuschauer war. Gauni trottete erwartungsvoll, Sibylle hpfte stolz einher. Eine Art Fieber hatte sie gepackt, sie wollte den beiden Freunden beweisen, wie geschickt sie war.
Auf dem Marktplatz lernte sie dann mit ungewhnlicher Schnelligkeit allerlei:
Wie man zu Geld kam:
Aus den Taschen anderer Leute.
Wie man zu einer Tafel Schokolade kam:
Aus dem Schaufenster einer Konditorei.
Wie man zu einem fixfertig bezahlten Wrstchen kam:
Vom Pappteller eines Menschen weg, der es gerade gekauft hatte, und zwar mitten aus dem gelben Senf heraus.
Sibylle war ungemein stolz, da sie dies alles so rasend schnell gelernt hatte.
Gauni war auch stolz, da er es ihr so schnell beigebracht hatte.
Geini war nicht stolz, er war nur neidisch.
Nachher saen sie noch eine Weile unter der Trauerweide am Fluufer. Sibylle fhlte sich sehr mde und hatte eine irrsinnige Sehnsucht nach ihrem Spielwinkel, wo es weder Geld noch Schokolade, noch Wrstchen mit Senf gab.
Ich mchte jetzt nach Hause, teilte sie den Jungen mit. Fort war aller Triumph, fort der Stolz. Sie wollte nur noch nach oben. Sie zeigte sich den zehn bissigen Hunden, kam dann auch mit Leichtigkeit den Weidenstamm hoch, oben breitete sie die Arme aus, ganz einfach, und ... fiel wie ein Sack herunter.
Ganz einfach.
Zunchst blieb sie im Gras liegen wie eine ausgerissene Blume.
Geini und Gauni sahen schweigend auf sie herab.
Die zehn Kter saen auf ein paar Meter Abstand, sahen auch schweigend zu ihr hin und hofften, da Sibylle sie noch einmal herausfordern wrde. (Was beweist, da sie ihrer Aufgabe zwar treu waren, da sie ihr aber auch die spielerische Seite abzugewinnen verstanden.)
Langsam erholte sich Sibylle von ihrer Benommenheit. Dann stand sie mhsam auf und versuchte wieder, auf ihre gewohnte Weise nach Hause zu gelangen. Sie fiel ein zweites Mal herunter, und diesmal tat sie sich ernsthaft weh.
Steig doch die Leiter hinauf, schlug Geini vor. Erlaubst du es ihr, Gauni? Damit gab er Sibylle auch den Tonkuckuck zurck, der ihr beim Sturz aus der Hand gefallen war.
Mit trockenen Lippen bat Sibylle: Nur dies eine Mal, Gauni, bitte.
Er erlaubte es ihr.
Vom ersten Stock stieg sie dann matt und mit groer Mhe die Treppe hinauf und gelangte auf diese Weise in die Kche.
Ihre Mutter stand am Herd. Sie sah Sibylle zur Kchentr hereinschleichen und sagte gar nichts. Was htte sie auch sagen knnen ? Wute sie doch genau, wann ein Kind nicht ins Haus hereinfliegt, sondern sich zur Kchentr hereinstiehlt.
Sibylles Vater sagte auch nichts, aber wahrscheinlich nur, weil er gerade schlief, sonst htte er wahrscheinlich etwas zu sagen gehabt.
Sibylle schwieg auch.
Sie humpelte zu ihren Puppen, die ihre Mutter aus Lehm geformt und denen sie Kleider aus Bltenblttern genht hatte. Die Puppen hatten sich bereits niedergelegt und lachten nicht, als Sibylle bei ihnen stand.
Dann trat Sibylle zu den drei Sternen, die ihr Vater vor Jahren aus einem Spiralnebel geholt und seiner Tochter zum Spielen geschenkt hatte. Die drei Sterne saen wie zerzauste Hhner auf ihrer Stange und sahen aus, als seien sie voller Staub.
Ein letzter Trost: der Tonkuckuck, den sie beim Sturz verloren, den Geini ihr wiedergegeben hatte. Gut, da er nicht zerbrochen war. Mit dem Kuckuck in der feuchten. Fiebrigen Hand schlummerte Sibylle ein. Die Sonne schien ins Zimmer, am Fenster summten ein paar Fliegen. Der Schlaf legte sich ber Sibylles Schmerzen wie eine warme Decke.
Zweimal war Sibylle von der Weide gefallen. Beim zweitenmal hatte sie sich weh getan. Niemand wute davon. Oder doch ?
Am spten Nachmittag kam nmlich Geini zu Besuch. Meine Gromutter will dich heilen, flsterte er ihr ins Ohr. Sie hat zugesehen, wie du pltzlich nicht mehr fliegen konntest. Warum kannst du es nicht mehr? In seiner Stimme lag Teilnahme und Neugier. Dadurch, da Sibylle nicht mehr fliegen konnte, war sie von einem Sokkel gefallen, auf dem sie in den Augen der beiden Jungen gethront hatte, war geworden wie sie beide. Dennoch lag in Geinis Stimme Mitleid, als er fragte: Weshalb bist du eigentlich heruntergefallen?
Ich wei es nicht, antwortete Sibylle.
Meine Gromutter sagt, das kme von innen, raunte er, um von Sibylles Mutter nicht gehrt zu werden. Von innen, sagt sie, kommt das.
Sibylle zog die Decke bis an den Hals: Ich wei nicht, was sie damit sagen will. Sie wute es aber sehr gut. Sie wute, da nicht die uere Beschaffenheit es war, wodurch sie fliegen konnte, sondern ein innerer Zustand der Echtheit: echt Angst haben. Echt Sehnsucht haben, aber nach Echtem, wie es die Wohnung, der Spielwinkel war. Nach Dingen, die einem echt gehrten. Keinesfalls nach Dingen, die anderen gehrten, wie zum Beispiel die Wrstchen auf dem Pappteller.
Geini wurde eindringlich: Komm zu meiner Gromutter, sie nimmt dir die Schmerzen weg! versprach er.
Sibylle stand geqult aus ihrem Bett auf. Dann humpelten beide die Treppe hinunter. Unten verscheuchte Geini die dreiig mehr oder weniger zugeflogenen Hhner, die sich auf dem Treppengelnder bereits zum Schlafen hingesetzt hatten, denn weder er noch Sibylle konnten die Treppe hinuntersteigen, ohne sich am Gelnder festzuhalten.
Weiter unten lagerten die zehn bissigen Kter. Sie taten Sibylle nichts, weil die ja nicht ins Haus hereinwollte, sondern sich bereits darin befand.
Geinis Kche war ausgesprochen schwarz. Die Wnde, die Decken, die ehemals weien Tren, alles. Das kam sicher vom offenen Feuer, das in der Mitte der Kche auf dem recht mitgenommenen Fuboden schwelte.
Sibylle kam sich vor wie in einem Museum. Hier war doch wirklich alles anders als bei gewhnlichen Leuten! Pipa Rupa, majesttisch neben dem Feuer, in den hngenden Zpfen klirrende Goldmnzen, die vielen kleinen halbnackten Kinder, berall die wuseligen, quiekenden Schweine, fr die Geinis Vater immer noch keine Stlle gebaut hatte, der beiende Rauch.
Vor Staunen ri Sibylle den Mund auf, gab aber keinen Laut von sich, weil man sie zur Hflichkeit erzogen hatte. Dazu ri sie auch die Augen weit auf; dies stand ihr so gut, da die alte Pipa Rupa lchelte, was sie sonst uerst selten tat. Dabei klirrten die Goldmnzen aus ihren Zpfen ganz leise mit. Dies kam nun wieder Sibylle so zauberhaft schn vor, da sie alle Angst, alles Staunen verga und auch lchelte.
Der Klang von Gold ist schn, sagte Pipa Rupa mit unendlicher Ruhe und mit einer Stimme, die sich wie eine Mnnerstimme anhrte. Wichtiger aber ist, unter freundlichen Sternen zu stehen.
Sibylle nahm die Worte der alten Frau in sich auf. Sie verstand zwar nicht, dennoch schienen sie ihr von groer Wichtigkeit. Dann streckte Pipa Rupa ihre braunen, lederartigen Hnde nach ihr aus. Behutsam entkleidete sie das Kind, legte Sibylle auf etwas, das ein Bett sein sollte, einen Haufen alter Kleider, der Geinis Eltern, vielleicht ihm selbst, als Liegestatt diente. Ohne einen Augenblick zu zgern, begann Pipa Rupa genau jene Stellen auf Sibylles zartem Kinderkrper leise zu streicheln, die am heftigsten schmerzten. Bei jeder Bewegung klirrten die Goldstcke aus Pipa Rupas Zpfen wie von weitem mit. Whrend sie Sibylle
streichelte, murmelte die Alte fremdartige Wrter vor sich hin, von denen Sibylle kein einziges verstand.
Dann zischte es so, als werfe jemand glhende Kohlen in einen Behlter mit kaltem Wasser. Mit-tenhinein flsterte Pipa Rupa: ... damit du unter freundlichen Sternen stehst ...
Ich habe drei Sterne, erzhlte Sibylle. Mein Vater hat sie fr mich aus einem dichten Sternhaufen herausgeklaubt, wo man ihr Fehlen nicht so bemerkt. Wenn ich genug damit gespielt habe, wird er sie zurckbringen. Damals, als er mir die Sterne gab, wollte ich sofort auch den Mond haben.
Pipa Rupa erwiderte: Das geht nicht. Was allen gehrt, darf man nicht einem einzelnen geben. Der Mond gehrt allen.
So hat mein Vater mir damals auch geantwortet. Die Sterne jedenfalls, die habe ich oben.
Du hast sie, und du hast sie doch nicht mehr. Und du weit es. Pipa Rupa nickte. Sibylle wute, da die drei lebendigen Sterne ihr nicht mehr gehrten, seit, vielleicht seit vorhin, als sie nicht mehr fliegen konnte. Seit das mit dem Gemsemarkt war, das mit den Wrstchen. Ob man etwas hat oder ob man etwas nicht hat, kommt immer von innen. Immer kommt alles von innen, setzte Pipa Rupa fort und strich dem Mdchen weiter leise ber den mageren Rcken, auf dem man wie bei fast allen Kindern die Rippen durch die Haut schimmern sah.
9. KAPITEL
Von einem folgenreichen Besuch Sibylles bei Familie Fanglinger
Als Sibylle hernach die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg, war es bereits dunkel. Selten hatte sie bisher Gelegenheit gehabt, ber das Stiegenhaus zu ihrer Wohnung zu gelangen, wute auch nicht, da sich da ein Lichtschalter befand, den man in der Dunkelheit anknipsen konnte. Durch die Fenster des Stiegenhauses drang kaum ein Schimmer Mondlicht. Es mute eine dunkle Nacht sein, vielleicht ging der Mond heute spter auf. Sibylle wute das nicht genau. Sie hatte bisher das bluliche Licht des Mondes immer dann wahrgenommen, wenn es halt schien, und es wre ihr nie eingefallen, danach zu fragen, wann der Mond ganz, halb oder nur als schmale Sichel am Nachthimmel zu sehen war.
Das Treppensteigen fiel Sibylle nicht schwer. Alle Glieder gehorchten leicht und schmerzlos. Ihre Hand tastete nach den blutigen Schrfungen an den Knien. Sie waren verschwunden. Pipa Rupa hatte sie buchstblich mit ihrer lederbraunen, runzligen Hand weggenommen, wo sie doch noch vor zwei Stunden geschmerzt hatten.
Mittlerweile war Sibylle vor Gaunis Wohnungstr im ersten Stock angelangt. Sie horchte. Von allen Seiten drangen Gerusche zu ihr.
Von oben klang es vertraut nach allen Handgriffen, mit denen ihre Mutter die Betten zum Schlafen richtete, nachher kamen mnnliche Schritte dazu. Das war ihr Vater, der aufstand, seine Gerte aus ihren schnen Futteralen nahm, sie zusammenschraubte und dann auf den Balkon rollte.
Die Nacht ist sehr dunkel, dachte Sibylle, aber der Himmel ist wolkenlos. Vater wird heute gut arbeiten knnen, und morgen wird er sehr zufrieden sein.
Von unten zog der Geruch von Rauch durch das Stiegenhaus. Sibylle schnupperte. Mit einiger Anstrengung sprte sie auch den Duft der Pfeife Pipa Rupas heraus, jener Pipa Rupa, die ihr seit zwei Stunden nicht mehr furchterregend wie bisher, sondern beraus freundlich und bewundernswert erschien.
Die zehn Hunde verhielten sich still, es grunzte nur hin und wieder ein Schwein im Schlaf. Jetzt gackerte auch eine Henne unter den Flgeln hervor.
Wenn Sibylle sich ganz darauf einstellte, konnte sie das leise Klirren der Goldmnzen aus Pipa Rupas Zpfen vernehmen.
In der Finsternis, die im Stiegenhaus auf der Lauer lag, ffneten sich Sibylles Sinne mehr als es sonst der Fall ist, wenn im Licht des Tages alle Eindrcke zugleich auf einen einstrmen: Bilder, Tne, Bewegung, Wind, Wrme oder Klte, Gerche. Hier, im stockfinsteren Stiegenhaus, sah
Sibylle nicht das Geringste. Doch nun ffneten sich ihre inneren Augen.
Sie sah Geinis schwarze Behausung. Da war die Kche, das Feuer, die schlafenden kleinen Kinder. Die Liege aus Lumpen, Pipa Rupa. Endlich der Panzerschrank auf dem Korridor, um den Geini einen weiten, ehrfrchtigen Bogen gemacht hatte.
Dann war es Sibylle, als she sie nichts anderes mehr als den Panzerschrank, fremd, lcherlich, eisern. Neben ihm erschien eine braune Dmmerung, die von den Rndern her zur Wolke anwuchs, in deren dunkelster Mitte der Panzerschrank stand. Seine Tr sprang pltzlich auf, gab den Blick frei in einen langen Korridor, der sich, je lnger er sich dahinzog, immer mehr einem roten Glutlicht nherte. Ganz am Ende des dunklen Ganges brannte ein wildes Feuer, davor tanzend, erschienen bewegliche Schemen, bald als schwarze Schatten, bald als von Flammen beleuchtete Gestalten. Der Rhythmus einer dumpfen Trommel drang in Sibylles Ohr, Schreie berlagerten die Trommelschlge, verdichteten sich rasch zu einer fremdartigen Melodie. Violette Glut lag auf den Gesichtern, Baumwurzeln hingen gespenstisch ber den Tanzenden. Aus dem Wirbel lste sich eine Frau, kam auf Sibylle zu. Weite Kittel wippten bei jedem Schritt mit. Je mehr sich die Gestalt aus dem Lichtschein entfernte, desto grer schien sie, desto schrfer wurden ihre Umrisse, desto deutlicher erkannte Sibylle sie am Gang. Es war Pipa Rupa. An der Hand fhrte sie Geini, den Freund. Die glserne, bauchige Wand einer Kugel umgab beide, schlo sie ein. Aus der Kugel heraus sagte Pipa Rupa: Die Sterne seien dir freundlich, Sibylle.
Langsam verlschte die rotgelbe Glut am Ende des Ganges. Pipa Rupa, sagte Sibylle. Sie erhielt keine Antwort.
Tritt heraus aus der Kugel, Pipa Rupa!
Wir drfen nicht. Hrte Sibylle dies wirklich? Dachte sie es nur ? Wir drfen nicht aus der Kugel heraus. Jeder mu in sich selbst bleiben. Wir. Auch du und deine Eltern. Gauni ist ausgebrochen; nicht er, seine Eltern, vor langer Zeit. Nun sieh, was aus ihnen geworden ist.
Hatten sie auch eine Kugel ?
Unsere, eure, seine. Einerlei. Sie htten darin bleiben mssen. Sie sind ausgebrochen. Wer aus seiner Kugel entweicht, ist verloren.
Das Bild glhte noch einmal auf, verschwamm, zog sich in die Finsternis des Stiegenhauses zurck. es war wieder vollkommen dunkel, als pltzlich etwas auf Sibylle fiel gleich einem harten Brett!
Ein schmaler Lichtstreifen, unbarmherzig scharf wie die Schneide eines frisch geschliffenen Messers drang aus einem Spalt von Gaunis Wohnungstr, vor der Sibylle im Dunkeln stehengeblieben war. Entsetzt drehte sie sich auf dem Absatz um und sah zu dem Spalt hin, aus dem das Licht gebrochen war. Das Licht, es htte mich beinahe mittendurch geschnitten, es schneidet, weshalb schneidet Licht, ging es wirr durch ihren Kopf.
Dann wurde sie ruhiger, dachte, wie konnte ich nur so erschrecken, es ist doch nur die Tr zu Gau-nis Wohnung aufgegangen, das Licht seiner Wohnung erhellt den Korridor, seine junge, schne Mutter steht in der Tr und winkt mir mit einem goldberingten Finger einzutreten ?
Guten Abend, Frau Fanglinger, sagte Sibylle.
Dabei dachte sie, die Goldreifen an Frau Fang-lingers Arm klirren in derselben Tonart wie die Mnzen aus Pipa Rupas Zpfen.
Der wunderbare Diamant an ihrem Finger wirft ebensolche Strahlen auf mich wie meine drei Sterne, wenn sie bermtig sind.
Gaunis Mutter riecht nach den schnsten Blumen aus unserem Glashaus, und aus der Wohnung strmen feine Rauchschwaden von Pfeifentabak, die an jene aus Pipa Rupas stndig qualmender Pfeife erinnern.
Komm herein, Sibylle, sagte Gaunis Mutter freundlich in ihre berlegungen hinein und ffnete die Tr so weit, als sei Sibylle mindestens fnfmal so dick, als sie es war.
Sibylle stand wie gebannt auf dem Treppenabsatz. Sie konnte nur denken: Hier klirrt und glitzert es wie oben bei mir die Sterne, wie bei Pipa Rupa die Mnzen.
Hier riecht es wie oben bei mir die Blumen, wie bei Pipa Rupa der Rauch.
Was hlt mich nur davon ab, hineinzugehen? Weshalb steht Gaunis Mutter in der Mitte, in einer toten Mitte zwischen oben und unten?
Bitte, komm herein, sagte Gaunis Mutter ein zweites Mal.
Ich mu wohl der Einladung folgen und hineingehen, dachte Sibylle. Denn Frau Fanglinger ist sehr freundlich zu mir, und hier wohnt Gauni, mein Freund, den ich behalten will, der mich gelehrt hat, den Gemsemarkt in einen Naschmarkt zu verwandeln, und dem ich das Fliegen immer noch nicht beigebracht habe, obwohl ich es ihm feierlich versprochen hatte.
Guten Abend, wiederholte Sibylle und trat artig in die Wohnung.
Zieh dir die Schuhe aus, war das erste, was sie hrte, und Gauni, der Freund, rief es ihr zu. Nicht hhnisch, nicht bse. Er rief es so, als wre es die natrlichste Sache der Welt, sich beim Eintreten in ein fremdes Haus die Schuhe auszuziehen. Er sa in einem Winkel und spielte mit irgend etwas, kam nicht herbei, grinste nur und sagte dann noch:
Bei uns macht man das so.
Sibylle streifte ihre Sandalen ab und stand nun barfu auf dem Parkett. Spitz und steif stand der Saum ihres gelben Kleidchens rechts und links von ihr ab. Die Arme hingen reglos an ihr herab, ihre Gedanken schwiegen. Sie muten wohl schweigen, weil hier alles laut auf sie einsprach. Hier riefen und redeten die Dinge, die Mbel, die Bilder, die Vorhnge, die schweren Teppiche. Sie redeten nicht. Sie schrieen frmlich. Der kristallene Lster an der Decke schrie: Sieh mich an, sieh mich doch an, la die anderen! Sieh, wie ich glitzere und welches Licht ich versprhe! Gebrochen in alle sieben Regenbogenfarben lasse ich das Licht aus mir heraus, du wirst dich nicht satt sehen knnen an mir. Dein blondes Haar leuchtet auf und erhlt einen blagrnen Schimmer, auf deinen Wangen spiegelt sich der Purpur meiner Strahlen, dein gelbes, armseliges Kleidchen wird in meinem Licht zu einer Blumenwiese.
Hier! rief der Spiegel, hier bin ich, la dich nicht betren von den anderen! Goldumrahmt, gro, vom Parkett bis zur Decke reiche ich! Dreimal so gro, als du es bist, drftest du sein, und du shest dich doch vom Kopf bis zu den Zehen! Und du shest, wie herrlich du in dem Regen der Farben dastehst, den der kristallene Leuchter ber dich ausschttet.
Nein, riefen die Gemlde, la die Eitelkeiten, betrachte uns! Wir sind edelste Malkunst aller Zeiten, wir sind vor mehreren hundert Jahren gemalt worden, unsere Schpfer wohnten im kalten Norden, im heien Sden! Italien und Flandern, diese Lnder sind unsere Heimat. Komm, verweile bei uns.
Wir fliegen! jauchzten die Vorhnge aus duftigem Gewebe, der Wind spielt mit uns, sieh uns zu, komm mit!
La die Vorhnge bei ihren Spielen mit dem Wind, sagten die Sessel behbig. Wir laden dich ein, setz dich auf uns, versinke in unseren grnen, weichen, samtenen Polstern, trume, schlafe oder rechne, was du dir noch alles anschaffen knntest ...
In einem dieser breiten Sessel ruhte Gaunis Vater. Er rauchte Pfeife und las trotz der Tatsache, da neben ihm eine wunderbare Stehlampe aus Schmiedeeisen stand, weder in einem Buch noch in einer Zeitung.
Sibylle stand barfu auf dem weichen Perserteppich. Ihre Fusohlen drckten sich wohlig, warm in die langen Wollfasern, aus denen er geknpft war. Seltsame Blumenranken, geometrische Flchen, Vgel, verworrene Linien schlangen sich durch das Gewebe. Sibylle konnte sich daran nicht satt sehen. Doch, was war das ? Langsam wurden die Ranken zu Wasseradern, die Flchen zu Seen. Unter ihren Fen fhlte es sich kalt und na an. Befangen trat Sibylle zur Seite, hier aber fhlte sie krnigen Grund, Unebenheiten, hartes Riedgras, das sich in ihre Fusohlen bohrte.
Frau Fanglinger hie sie sich an den Tisch setzen, begann, sie freundlich auszufragen. Sibylle war froh, sich setzen und so die Fe anheben zu knnen', ohne da jemand es sah, und auf diese Weise dem glitschigen Na zu entrinnen.
Als ein Tablett mit Sigkeiten vor sie hingestellt wurde, wagte sie es noch einmal und berhrte vorsichtig mit den Zehenspitzen den Teppich unter dem Tisch. Nun war der nicht mehr blo feucht, sondern es war Sibylle, als trte sie in Pftzen.
Sie sprang auf, stellte sich bestrzt neben den Teppich aufs blanke Parkett, sah mit weit offenen Augen zu, wie die Ranken des wunderbaren Gewebes sich zu einem flieenden Wasser sammelten. Stellenweise traten die Fluten schon ber die Ufer, verflossen zu Lachen und moorigen Flchen. Um die Moore herum wuchs altes, gelbes Schilf. Der Flu strmte trge dahin, wurde immer breiter. Hier stand Sibylle, jenseits des Flusses stand Gauni, standen seine Eltern zunchst ruhig, dann gingen sie langsam triumphierend zu einem Hgel, setzten sich dort auf einen prall gefllten Koffer, aus dem Schtze quollen. Auf Sibylles Seite ergo sich der Flu drohend ber das Ufer. Sibylle wollte schreien, streckte die Hnde hilfesuchend aus, hielt verzweifelt Ausschau nach einer Brcke. Die Vgel, die bis zuvor noch die Ufer bevlkert hatten, wurden vom Wasser mitgerissen, schlugen ertrinkend um sich. Wo gab es eine Brcke, einen Steg?
ber diesen Flu fhrte keine Brcke.
Langsam zerrann das Bild.
Der Flu schrumpfte wieder ein, vor ihr schlangen sich die Ranken ber den Teppich, die Vgel standen still, wo sie hineingewebt worden waren. Alles war trocken; in ihr Bewutsein schlich sich wieder die Empfindung des seltsamen Wohlgeruchs, der in diesen Rumen lag.
Entschuldigen Sie, bitte, sagte Sibylle und setzte sich bla auf ihren Platz zurck.
Du wolltest dir wohl den schnen Teppich als Ganzes ansehen? Herr Fanglinger lchelte. Er ist ein beraus teures, seltenes und altes Stck. Wunderbar erhalten. Im Iran handgewebt. Vogelmuster mit reichen Blumenornamenten. Hier, andere Symbole noch, die man uerst selten findet. Alle Sachverstndigen sind wie verrckt nach diesem Teppich, die Museen wollen ihn haben. Aber wir geben ihn nicht her.
Ja, sagte Sibylle. Nein. Natrlich nicht. Dabei dachte sie, wann war nur jemand hier, den Teppich zu sehen, es war doch nie einer hier, kein Fremder darf ins Haus, und keiner ist je ber die Leiter gekommen, ich mte ihn doch gesehen haben ...
Du bist also die kleine Sibylle, lchelte Herr Fanglinger ihre wirren Gedanken fort.
Nicht gerade die kleine, aber Sibylle, antwortete Sibylle.
Verzeih, lenkte Herr Fanglinger ein, du bist natrlich schon ein groes Mdchen.
Sibylle fhlte sich vershnt und nickte.
Immer wieder glitt ihr Blick die Wnde entlang, sie konnte sich nur schwer aufs Gesprch konzentrieren. Sie sah die teuren Mbelstcke und bedauerte, daheim nicht auch solche Kostbarkeiten in der Wohnung zu haben. Dann aber erinnerte sie sich an die unzhligen Blumenstrue, die bei ihnen auf allen Tischen, in allen Ecken standen, und das Bedauern verflog. Sie sah sich noch einmal genau um. Nein, hier stand kein einziger Blumenstrau, wollte man von einer hlzernen, geschnitzten Vase absehen, in der einige Kunstblumen aus gewachster Seide prangten.
Wie geht es dir? erkundigte sich Gaunis Mutter und schob ihr den Teller mit den Sigkeiten in Greifweite.
Sibylle fhlte, wie bei dieser Anteilnahme nicht nur ein Staunen, sondern auch ein ganz unbegrndeter rger in ihr hochstieg. Nun wohnten sie schon seit einem Jahr oder lnger in diesem Haus am Fluufer, und ausgerechnet heute fiel es Gaunis Eltern ein, sich um ihr Wohlbefinden zu kmmern. Wie es mir geht? fragte sie. Gut geht es mir.
Ich meine, lenkte Gaunis Mutter ein, ob du nicht vielleicht einen Arzt brauchst. Wir kennen einen ausgezeichneten Doktor.
Warum sollte ich denn einen Arzt brauchen ? Sibylle fhlte den rger im Hals sitzen, fhlte, wie er sich ber bse Worte herausdrngen wollte. Sie mhte sich, hflich und ruhig zu bleiben. Offenbar hatte sie vllig vergessen, da sie heute zweimal von der alten Weide gestrzt war, da also die Frage, ob sie einen Arzt brauchte, berechtigt war.
Ich meine, schaltete sich nun auch Gaunis Vater ins Gesprch, ich meine, weil du doch heute ... hm, hm ... ich glaube, gefallen bist, oder so etwas.
Sibylle verga gnzlich ihre gute Erziehung. Oder so etwas! schrie sie. Von der Weide bin ich gefallen, ganz einfach. Der Geini doch auch, vor einigen Tagen erst. Haben Sie sich um den etwa auch gekmmert?
Davon wuten wir nichts, erhielt sie zur Antwort. Oder kann Geini auch fliegen? Das ist uns neu.
Wieso wuten Sie dann von mir? schrie Sibylle sehr ungehrig. Ihr war, als stnde sie diesseits des trgen Stroms, mit nackten Fen im schlammigen Grund, jenseits stnde Gauni, stnden seine Eltern, zwischen ihnen aber gab es keine Brcke.
Bei diesem Bild, das vor ihr aufstieg, wurde ihr Gesichtsausdruck leer, ihr Sehen verschwamm. Sie sah nur den trgen Flu, angefllt mit Wasser, und keine Brcke fhrte darber hin.
Wie durch feuchten Nebel sah sie dann Herrn Fanglinger, als er mit seiner Frage durch das Bild brach, das vor Sibylles Augen stand: Aber Sibylle, wie sollten wir denn von deinen Flugknsten nichts wissen ? Wir sehen dich doch immer wieder an unseren Fenstern vorbeischweben, Schn machst du das, Kind. Und sag, mchtest du es deinem Freund Gauni nicht auch beibringen ? Er kann es nicht lernen. Das Sprechen bereitete Sibylle groe Schwierigkeiten. Auch fhlte sie sich Gauni gegenber schuldig, weil sie es ihm noch nicht beigebracht hatte. Dumpf empfand sie, da der Flu, der zwischen ihnen lag, irgend etwas zu tun hatte mit der Unfhigkeit Gaunis, sich in die Luft zu erheben. Frau Fanglinger kam mit einem Vorschlag:
Wenn du meinst, da Gauni es nicht kann, so lehre es dann uns, Sibylle. Wir sind gute Sportler und geschickt in vielen Dingen. Und, als Sibylle sie abweisend ansah: Wieviel sollen wir dir dafr zahlen, wenn du es uns erklrst?
Eine groe Bestrzung bemchtigte sich des Mdchens. War ihr Fliegen denn etwas, das sie um Geld verkaufen, hergeben konnte, war es so etwas? War es nicht vielmehr etwas, das sie einfach konnte, weil es zu ihr gehrte wie ihr aschblondes Haar, wie ihre lustigen Zehen, die sich jetzt verlegen in die dicke Weichheit des Teppichs bohrten, des unerwartet trockenen Teppichs ? Ich kann nicht, sagte sie voller Scham. Du willst nicht! tobte jetzt Gaunis Vater los, sprang aus seinem Sessel auf, kam drohend auf Sibylle zu: Dann also wollen wir uns die Sache selbst einmal ansehen. Immer nher kam er. Sibylle sprang entsetzt vom Stuhl, lief an die Wand, lehnte sich daran, als wollte sie die Flgel, die sie nicht hatte, vor Bedrohung schtzen. Die Wand im Rcken, vielleicht half sie ihr, die Wand, die aus Pipa Rupas dunkler Wohnung heraufwuchs, hier vorbeiwuchs, bis zu ihr hinaufreichte, an der sie ihr Bettchen hatte, dieselbe Wand. Sibylle fhlte sie khl auf Schulterblttern, auf der einen Handflche, die sie daran klebte, an den Kncheln der anderen Hand, mit der sie ihren Kuckuck festhielt. Sie atmete hastig. Zwischendurch sagte sie: Nein. Ich will nicht. Das heit, ich wollte es Gauni beibringen. Ab^er jetzt will ich nicht mehr. Fertig.
Dann wirst du eben dazu gezwungen werden! lchelte Gaunis schne Mutter.
Gauni, bat Sibylle, du bist mein Freund. Was haben deine Eltern mit mir vor? Bist du nicht mein Freund ?
Gauni sagte: Was wei ich, ob ich dein Freund bin oder nicht. Ich wei nur, da wir jetzt endlich einmal wissen mssen, wie das mit deiner Fliegerei zugeht. Zeig es uns im Guten, Sibylle, ob du nicht vielleicht doch so eine Vorrichtung hast wie Flgel oder so etwas. Wir nehmen sie dir nicht fort.
Nein, sagte Sibylle. Der Strom war wieder da. Jetzt war er sehr breit geworden. Der feuchte, belriechende Dampf, der aus ihm hochstieg, nahm ihr alle Klarheit der Gedanken. Mit beiden Hnden umklammerte sie ihren Tonkuckuck, als knnte ihr von dem eine Sicherheit kommen. Der Flu wurde breiter, sein Wasser flo ber, umspielte ihre nackten Zehen. Herr Fanglinger kam mit unendlich langsamen Schritten auf sie zu, seine Kleider wurden nicht na, als er durch das Wasser watete, er hatte auch keine groe Mhe damit, es war wohl sein eigener Flu, er schien ihn zu kennen, schob sich auseinander, wo er ging, schlo sich hinter ihm wieder.
Dann war auch Frau Fanglinger da, packte sie, warf sie auf die elegante Couch. Bis dahin hatte Sibylle noch nie auf dunkelgrnem Samt gelegen. Durch ihren Unwillen hindurch empfand sie den Unterschied des edlen Stoffes zu jenem Haufen Lumpen bei Pipa Rupa. Heftig ri Frau Fanglinger an Sibylles gelbem Kleidchen, fand die Druckknpfe hinten am Halsausschnitt, zerrte daran, streifte dann die Trger von den Schultern, whrend Herr Fanglinger Sibylles wild strampelnde Beine packte.
Gauni hielt sich abseits. Er half weder seinen Eltern noch Sibylle. Konnte er sich nicht entscheiden, wessen Partei er ergreifen sollte? Wollte er keinen von ihnen verrgern ? Oder wute er einfach nicht, welche Aufgabe ihm bei dieser brutalen Untersuchung Sibylles zufiel ?
Frau Fanglinger strich mit ihrer schnen, weien, gepflegten Hand den Rcken Sibylles auf und ab. Sibylle schwieg. Sie hielt sich an ihrem Kuckuck fest, erinnerte sich an die Hand der alten Pipa Rupa, die auch so ber ihren Rcken gestrichen hatte, vor zwei Stunden erst. Pipa Rupas Hand war hart und braun gewesen, hatte vor Rauhheit leise geschabt, hatte nach Rauch gerochen. Andere Hnde: Fridolins Hand lag zuweilen auf ihrer Schulter, wenn sie durch die Stadt gingen, lag dort wie ein schwerer Vogel, der ihr etwas zu berichten hat. Mamas Hand, wie eine Blume, wie eine Schneeflocke. Die Hand von Gaunis Mutter war leicht und gepflegt und duftete angenehm, lastete aber auf Sibylles magerem Kinderkrper wie ein Kerkergitter. Ihre Berhrung brannte. Sibylle wehrte sich, schrie: Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe, es geht doch gar nicht um Flgel, alles kommt immer von innen, pltzlich begriff sie dieses Wort, Sie verstehen berhaupt nichts, und jetzt will ich nach Hause, lassen Sie mich doch los!
Sie entwand sich, fhlte, wie sie den trgen Strom berspringen konnte, als wre er ein lcherliches Rinnsal, sie blies dem verdutzten Gauni ein schrilles Kuckuck ins Ohr und wute pltzlich ganz deutlich, da sie mit den Leuten vom ersten Stock nicht das geringste gemeinsam hatte.
Mit einem Satz war sie auf dem Balkon, stieg auf die Brstung, ganz einfach, breitete die Arme aus, ganz, ganz einfach, und flog frei und glckselig in die Nacht hinaus. Zuerst an Pipa Rupas Fenster vorbei, dann noch einige weite Spiralen in die Hhe, beinahe bis an den Mond, der mittlerweile wie ein heller Trost am Himmel aufgegangen war." Und dann schnell noch ein wenig den Flu entlang, in dem immer noch die violetten Kugeln schwammen und so sonderbar im Mondlicht schimmerten...
10. KAPITEL
Von Sibylles erster Begegnung mit dem Gnom Elmorck
Sibylle flog. Bezaubert schwebte sie ber dem lila Leuchten, das ihr aus dem Wasser entgegenkam. Stellenweise verhinderten weie Nebelschwaden, die ber dem Flu lagen, die Sicht; dann wieder schimmerten die lila Trnen des Gnoms Elmorck bla durch die Dnste der Fluaue.
In Sibylle war eine Spannung, als triebe sie etwas voran, als sei da etwas, das^ihr befahl, weiter und immer weiter zu fliegen.
Sie verfolgte den Flulauf bis an den Tannenwald. Ein warmer Regen setzte ein, erfrischte sie, hrte dann wieder auf. Das Licht des hher steigenden Mondes vernderte das Leuchten der violetten Trnen auf dem Flu ins Grnliche. Alles verlor sich im Unwirklichen, Blassen, alle Umrisse wurden unscharf. Eine Welt des Traums, ber der Sibylle dahinschwebte.'
Die wrzige Luft des Tannenwaldes brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurck. Es ist wohl besser, berlegte sie, den Flu nicht zu verlassen, um an ihm entlang nachher den Heimweg leichter finden zu knnen.
Allmhlich verlor der Flu an Breite, wurde zu einem Flchen, schlielich zu einem rauschenden, schumenden Gebirgsbach. Zuletzt flog sie ber eine Lichtung und erkannte dort die kleine Quelle, den Ursprung jenes breiten Wassers, das durch die Kleine Stadt flo.
In der Nhe der Quelle gewahrte Sibylle eine verfallene Blockhtte, etwas hher die Kuppe der Schlammvulkane. Die kleinen Krater und Schlote, ihr Brodeln und berschumen, ihre Unruhe, die im Mondlicht ins Bluliche schimmernden Blasen, die immer wieder hochquollen und dann zerplatzten, bezauberten Sibylle.
Gefesselt von der Neuheit dieses Anblicks, frhlich wegen des Spielerischen der vielen kleinen Krater, flatterte sie von einem zum anderen. Bis die daraus strmenden Giftgase ihr den Atem benahmen, die Augen verschleierten, bis sie allen Schwung, alle Seligkeit des Fliegens verlor. So taumelte sie ber den Vulkanen hin und her wie eine Motte, die sich an einer Kerze die Flgel versengt hat. Aus den Kratern stiegen die Dmpfe, hllten sie wie kalter, grauer Nebel ein. Ihr Flug wurde zum haltlosen Flattern, sie war nahe daran, zu strzen.
Der Tonkuckuck glitt ihr aus der Hand und fiel wie ein Stein in einen der Schlote. Dort geriet er in das Auf und Ab der blubbernden Masse, die Gase drangen in ihn ein, der wogende Schlamm lie die ffnung auf seiner Brust bald offen, bald verdeckte er sie:
Kuckuckkuckuck! rief es ohne Unterbrechung aus dem Vulkan. Nacht und Wind vervielfltigten den Klang seines Rufes.
Sibylle weinte auf. Sie lie sich tiefer und tiefer sinken, wollte versuchen, ihren Kuckuck aus dem Krater zu holen, war beinahe unten angekommen, da brach pltzlich mit einem lauten unartikulierten Schrei eine zwergenhafte Gestalt aus einem Klumpen getrockneten Schlamms hervor und strzte sich wtend auf den Schlot, in dem der Kuckuck versunken war und in einem fort rief.
Dies Unerwartete schreckte Sibylle aus ihrer Betubung. Das Mondlicht war mittlerweile hell genug geworden, da Sibylle in dem bsen Wesen die Gestalt und das Gesicht dessen erkennen konnte, den ihr Freund Fridolin als Schmuckfries auf seiner kleinen Drehorgel hatte.Sie stie einen Schrei aus, flatterte hher. Da erblickte sie der Gnom Elmorck. Seine Trnen versiegten. Er packte seinen langen, schlammbesudelten Stecken und begann, nach Sibylle zu schlagen, wie Buben Schmetterlinge oder Maikfer jagen. Er sprang hinter ihr drein, verfolgte ihren Flug im Zickzack, rutsche auf dem Schlamm aus, fiel, arbeitete sich wieder hoch, schlug pausenlos nach ihr. Einmal traf er sie am Arm. Entsetzen und Ekel raubten dem Kind beinahe das Bewutsein.
Elmorck lachte, da die Berge ringsum widerhallten, seine violetten Augen leuchteten auf.
Der Tonkuckuck rief aus dem Krater immerzu, immerzu.
Ein Windsto brachte Sibylle einen Atemzug frischer Luft. Sie stie in die Hhe und war gerettet. Taumelnd glitt sie durch die Nachtluft heimwrts. Langsam fhlte sie sich besser, obwohl eine groe Enttuschung ber Fridolin in ihr aufstieg: mit diesem schrecklichen, hlichen Wesen mute er etwas zu tun haben. Wie konnte das mglich sein?
Als sie von weitem ihr Haus am Fluufer sah, packte sie eine solche Freude, da sie es wimmernd und schreiend und lachend in einer schwungvollen Spirale umflog; schlielich segelte sie am Fernrohr ihres Vaters vorbei und durch das offenstehende Fenster direkt in ihr gutes altes, weies Bettchen hinein.
Kurz vor dem Einschlafen befand sich Sibylle dann dort, wo das Wissen aufhrt und der Traum beginnt. Todmde von berstandener Angst, hellwach vor bermdung, sah Sibylle den
Baum der Menschen.
In scharfen, schnen Umrissen hob er sich vom Wei der gegenberliegenden Zimmerwand ab, leuchtete in satten Farben. In ihm waren die drei Stockwerke ihres Hauses.
Unten lebten die Geinis, schwerfllig gingen sie einher, weil ihre Fe mit tiefen, wirren Wurzeln im Erdreich verankert waren.
Oben, wo der Stamm ins Astwerk berging, gab es Fenster, helles Licht strahlte aus ihnen. Ihr Vater sa im Gest der Krone, Sterne im Haar. Ihre Mutter pflegte die Frchte, die an den sten und Zweigen hingen.
Ganz dunkel und unbestimmt lag die Mitte des Baumes da, die Fenster waren verriegelt. Das Mittelstck aber wand sich und reckte sich und wucherte bedrohlich aus, als wollte es bergreifen, berhandnehmen, alles verschlingen. Einmal erschien irgendwo auch Gauni, griff nach unten, packte den Geini bei den Haaren und wollte ihn zu sich hinaufzerren, bis Sibylle schrie: Mach dich frei, mach dich frei! Dann langte Gauni zu ihr hinauf, bekam ihre Fe zu packen, zog, zog. Sie klammerte sich an einen Ast, wand sich daran hoch, rief um Hilfe, und dann war auch schon Fridolin da, er kam von oben und befreite sie. Bistdu auch hier oben, fragte Sibylle, und er sagte: Ja, ich habe meinen Platz in der Spitze der Baumkrone. Der Baum der Menschen trgt mich, damit ich singen kann. Und wo ist der andere, fragte Sibylle und meinte Elmorck, und wieder stellte sich die Angst in ihr ein, die sie oben auf der Bergkuppe empfunden hatte. Der Baum stand wie ein Gemlde auf der weien Wand. Sieh, sagte Frido-lin, da ist er.
Schlielich fand Sibylle nach langem Suchen den Gnom unter der Erde, im Gewirr der Baumwurzeln verfangen, er hockte, grinsend und zugleich weinend unter einem Stein.
11. KAPITEL
Was der Gnom Elmorck tat, nachdem Sibylle ihm entkommen war
Elmorck lie den Stecken fallen. Er setzte sich nieder, wo er war, und zitterte vor Erregung. So also sahen die Menschen aus, und fliegen konnten sie. War es da ein Wunder, da Fridolin sich von ihnen hatte umgarnen lassen und es vorzog, ihr Gefhrte zu werden, statt auf der Anhhe der Schlammvulkane neben einem migestalteten, froschhnlichen, schmutzigen Gnom auszuharren und ihm die Wirtschaft zu fhren ? Es war kein Wunder.
Hatte er selbst, Gnom Elmorck, nicht auch nach dem schnen, zartgegliederten, feinen Wesen gehascht? Weshalb er das getan hatte, war ihm nicht klar. Er wute nur, da er das Menschlein, das flgellos ber seiner schlammigen Welt umhergeschwirrt war, haben wollte und haben mute.
Seine Einsamkeit und Verlassenheit lie ihn wieder in Trnen ausbrechen. Zh flssen sie an ihm herunter, rollten den Abhang hinab, nahmen mitsamt der Quelle den Weg talwrts. Seine Gedanken folgten ihnen. So fand er in die Huser der Menschen, die am Fue seines Berges in der Kleinen Stadt wohnten und die sich irgendwann solche blalila Glastrnen als Zierat ins Haus gebracht hatten.
Da sah er eine Mutter mit einem Sugling an der Brust.
In einem anderen Haus sah er einen Trinker im Rausch des Weins, selig und unglcklich zugleich.
Er sah ein junges Ehepaar in seiner Umarmung und im Nebenhaus einen Toten auf der Bahre.
Ein Mann sa vor seiner Petroleumlampe und schrieb. Auf dem Tisch lagen ganze Stapel beschriebenen Papiers. Der Gnsekiel flog ber die Bltter.
Elmorck lie seine Gedanken suchend von Haus zu Haus wandern. berall dort hatte er Einblick, wo eine seiner Trnen im Haus war. Er sah sehr vieles, fliegen aber wie das kleine, zarte Wesen geflogen war, sah er keinen einzigen Menschen.
Stundenlang wanderte er so durch die Wohnungen der Stadt. Er suchte nach Sibylle, aber Sibylle hatte keine Glastrne im Haus.
Das letzte, was Elmorck sah, war die Werksttte Fridolins.
Im Raum standen Staffeleien, darauf seltsame Gemlde. Auch die alte, vertraute Drehorgel war da.
Fridolin schlief. Neben ihm lag, als sei sie der Hand entglitten, eine der Trnen Elmorcks, schimmernd, wie lebendig. Blind vor Wut und vor Sehnsucht strzte Elmorck sich auf die Vulkane und whlte sie auf, bis sie berquollen. Als durch die heftigen Bewegungen der lange Stecken brach, rhrte er mit den bloen Hnden weiter. Nur weiter so, nur weiter!
In seinem Herzen glhte der Ha gegen alles, was war.
Ununterbrochen klang es aus seinem besten Vulkan:
Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!
Das brachte ihn zur Verzweiflung.
Erstickte dieses Biest denn berhaupt nie ?
12. KAPITEL
Von einer berraschung, die Sibylles Vater erlebte
Da wre nun etwas beraus Wichtiges zu erwhnen, bevor wir unsere Geschichte weiterverfolgen. Als Sibylle, von der Bergkuppe der Schlammvulkane zurckgekehrt, voller Freude ihr Haus umflog, sa ihr Vater wie allabendlich vor seinen Fernrohren auf dem Balkon und suchte die Tiefen des Raums nach unbekannten Nebeln, Sternen oder nach Spuren des Lebens ab.
Sein Gemt war von tiefer Ruhe erfllt. In der letzten Zeit hatte er immer weniger gesprochen, hatte sich seinen Gedanken hingegeben. Ihm erschien es unwahrscheinlich, da unsere Erde die einzige Trgerin von Leben sein sollte. Wunderbares hatte er schon gesehen: Er dachte an die gelbe Mondwste, die er durch sein Teleskop erblickt hatte, an die leuchtend blauviolett gefrbten Sternwolken unserer Milchstrae, an den unwahrscheinlich grn schimmernden Staubnebel des Orion. Immer wieder suchte er mit seinen Glsern diese Orte auf, verweilte in staunender Bewunderung davor, suchte Zusammenhnge zu begreifen, zu berechnen.
War es da ein Wunder, da er zutiefst erschrak, als sich ihm an diesem bedeutungsvollen Abend ein knallgelbes Sternchen, das wie ein Kind aussah, vor sein Objektiv schob, mitten durch den Andromedanebel flitzte, zum Greifen nahe schien und doch nicht mehr einzufangen war? Das Teleskop, auf Entfernungen von Lichtjahren eingestellt, verweigerte den Dienst bei einem gelben Sternchen, das lautlos in nchster Nhe schwebte;
das freie Auge erkannte nicht mehr als zwei Zakken seines gelben Krpers, die ums Haus verschwanden und von denen ein Paar niedlicher Kinderbeine herabbaumelten.
Sibylles Vater sttzte seine Stirn in die Handflchen, sein Herz klopfte. War er nun dazu ausersehen, das erste lebende Wesen im All entdeckt zu haben ?
Da es seine eigene Tochter gewesen sein konnte, daran dachte der arme Mann nicht im entferntesten. Denn erstens glaubte er sie zu dieser spten Stunde in ihrem Bett. Zweitens kannte er sie nur im Schlafhemdchen, wenn sie ihm abends den Gutenachtku gab und morgens verschlafen zublinzelte. Ihre Kleider kannte er nicht, ihr gelbes, steifes Rckchen, das unten am Saum mit zwei Zacken von ihrem dnnen Krper wegstand, hatte er nie gesehen. Zudem beschftigte ihn gerade zu dieser Zeit seine Theorie ber das Leben im All mehr als sonst.
Was also alles dazu beitrug, da er seine eigene Tochter fr einen Boten aus den Tiefen des Alls hielt. Zudem war er bezaubert von der Art ihres Fliegens. Ein solches Gleiten, eine derartige Anmut konnte nur bei einem auerirdischen Wesen vorkommen. Davon war er berzeugt.Whrend er noch zitternd und hchst erregt dasa, die Stirn in die Hnde gesttzt, schwirrte Sibylle lautlos an ihm vorbei, direkt in ihr gutes altes, weies Bettchen hinein.
Und als er fiebernd aufstand, um ihr als erste die aufregende Mitteilung zu machen, fand er sie mit halbgeschlossenen Augen liegend, genau in diesem Augenblick auf der Schwelle zwischen Wissen und Traum. Als sie den Baum der Menschen sah, einer Menschheit, in der die Welt der Fanglin-gers sich auszubreiten und alles in Besitz zu nehmen drohte. Einer Menschheit, die nur dann gerettet werden konnte, wenn sie tiefe Wurzeln im Erdreich hatte und ihre Sehnsucht bis ber die Sterne reichte.
Mit dieser Erkenntnis schlief Sibylle vollends ein, verga sie bis zum nchsten Tag, hatte sie dennoch fr ihr ganzes Leben gewonnen.
Ihr Vater indessen setzte sich an seinen Schreibtisch, zndete eine Petroleumlampe an und verfate einen aufregenden Bericht ans Ministerium ber ein unbekanntes Flugwesen von kindlicher, sternenhafter Gestalt, das er heute gesichtet hatte.
Diesen Bericht faltete er feierlich zusammen, legte ihn in einen weien Umschlag, versiegelte ihn mit rotem Wachs und brachte ihn noch in der gleichen Nacht zur Post.
13. KAPITEL
Vom Kampf, der sich zwischen Fridolin und Gnom Elmorck um Sibylle abspielte
Am nchsten Morgen vermied Sibylle eine Begegnung mit den Freunden. Sie schlief sehr lange, nachher blieb sie in ihrem Spielwinkel, versuchte sich zu beschftigen, wurde aber von wirren Gedanken hin und her gerissen.
Sibylle hatte sehr vieles zu berlegen. Alles, was ihr am Vortag zugestoen war, mute irgendwie miteinander zusammenhngen. Viele Fragen stellten sich ihr. Zum Beispiel, warum sie pltzlich nicht mehr hatte fliegen knnen, nachdem sie von Gauni gelernt hatte, den Gemsemarkt in einen Naschmarkt zu verzaubern.
Immer kommt alles von innen. Dies Wort der alten Pipa Rupa drngte sich auf. Fliegen kam von innen, dessen war sich Sibylle sicher, das hatte sie den Fanglingers auch deutlich genug gesagt. Was aber hatte das Verzaubern des Gemsemarktes mit dem Fliegen zu tun? Weshalb hinderte es sie daran ? Gehrte eine solche Art des Zauberns auch nach innen ?
Ja, wute sie pltzlich, die gehrte auch nach innen. Vielleicht wurde man anders davon. Schwerer. Belastet vielleicht.
Da sie nach dem Arger bei Familie Fanglinger dann pltzlich wieder fliegen konnte, schien ihre Vermutung zu besttigen. Alles, was mit Gauni und seinen Eltern zusammenhing, beschwerte sie. Der Baum der Menschen kam ihr in Erinnerung und der mittlere Teil, der alles zu berwuchern drohte.
Wer waren die Fanglingers ?
Was taten sie, wovon lebten sie?
Wie kam es, da sie so irrsinnig wohlhabend waren, obwohl sie nirgends arbeiteten? Was hatte der Flu zu bedeuten, der pltzlich auf dem schnen Teppich zwischen Sibylle und ihnen gelegen hatte?
Immer kommt alles von innen.
Der Flu, der Unterschied zwischen ihr und Gauni, zwischen ihren Eltern und Gaunis Vater und Mutter. Der Unterschied zwischen Fanglingers und Pipa Rupa. Ein Unterschied, der von auen auch leicht erkennbar war, von grerer Bedeutung schien aber die innere Verschiedenheit zu sein. Weshalb hatten die Hnde von Gaunis Mutter, die schnen, goldberingten Hnde, sie so geqult, whrend Pipa Rupas harte, kratzende Hnde sie geheilt hatten ?
Immer kommt alles von innen. Sibylle begriff immer besser, was Pipa Rupa mit diesen Worten gemeint hatte.
Und da sie nach der Untersuchung bei Fanglingers dann auf die Bergkuppe der Schlammvulkane geraten war, da sie dort beinahe von einem grausigen Mnnlein eingefangen worden wre, das hatte sie auch Gauni und seinen Eltern zu verdanken. Wer aber das Mnnlein war und was die brodelnden Baumstmpfe sollten, darauf fand Sibylle keine Antwort.
Am qulendsten war der Gedanke an die kleine Drehorgel. Wie war es nur mglich, da ihr Freund, der Knstler Fridolin, lauter Abbildungen des bsartigen Zwergs auf seinem Instrument angebracht hatte ? Er mute ihn kennen, das stand fest. Er mute auch etwas von ihm halten, htte er ihn sonst als stndigen Begleiter auf seinen Leierkasten gesetzt ?
Sibylle stand auf. Sie wollte Fridolin nach allem fragen.
Ihr gelbes steifes Kleidchen zog sie ber, bat ihre Mama, die Druckknpfe hinten zu schlieen, und lief zu Fridolin. Die Stelle am Arm, wo der Stecken Elmorcks sie getroffen hatte, war blauschwarz, als sei sie schmutzig, schlammig vielleicht. Sie hatte sie sorgfltig vor den Augen ihrer Mama verborgen. Mit Wasser hatte sie sich nicht subern lassen; jede Berhrung tat weh.
Fridolin war nicht in seiner Werksttte.
Sibylle fand ihn am Flu, dort, wo er die breite Schleife macht, nachdem er die Stadt verlt. Fridolin sa im Ufergras, hinter alten Weiden und Erlenbschen verborgen. In der Hand hielt er eins jener durchsichtigen, klaren Augen mit dem violetten Schimmer.
Ich bin es, Sibylle, sagte sie und setzte sich neben Fridolin ins hohe Gras. Kuckuck.
Weshalb sagst du das heute so, Sibylle ... so ...ich wei nicht, wie ich das nennen soll. Bisher hast du mir immer dein >Kuckuck< zur Begrung geblasen? Fridolins rechte Hand legte sich auf Sibylles Schulter wie ein groer, schwerer Vogel. Was ist mit dir, Sibylle? Unter Fridolins Berhrung bebte der Krper des kleinen Mdchens.
Ich habe lange nach dir gesucht, Fridolin, sagte Sibylle anstelle einer Antwort.
Wolltest du wieder einmal die Drehorgel hren ?
Nein! schrie Sibylle jetzt so laut, da sie selbst erschrak. Sibylle wute pltzlich, da sie Angst hatte. Sie schwieg eine Weile, sagte dann etwas ruhiger: Ich wei nicht, ob ich deine Drehorgel berhaupt noch jemals hren will.
Sibylle?
Die Angst schlug ber ihr zusammen. Und dann dies schreckliche Auge, tu es weg, Fridolin, tu es weg! schrie sie und schlug es ihm so ungestm aus der Hand, da es klatschend auf dem Wasser aufschlug. Sie begann heftig zu zittern und weinte laut heraus.
Fridolin stand auf, ri das Mdchen am Arm hoch und fragte hart: Was weit du, Sibylle? Sag sofort alles, was du weit!
Erschrocken suchte Sibylle, sich zu beherrschen, als sie ihren sanften, gtigen Freund so ungeduldig sah. Sie stammelte: Er hat nach mir mit einem langen Stecken geschlagen, er hat mich getroffen, es tut weh, er wollte mich fangen, und ich wre beinahe gestorben, so schlecht war es mir dort oben. Er hat so leuchtende Augen, Fridolin, und er kam aus einer runzligen Schale gesprungen wie ein wilder Vogel aus einem Ei, und er lachte und schlug nach mir.
Die Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen, sie brach wieder in das gequlte Weinen aus, das Kinder weinen, wenn sie sich ihrer ganzen Hilflosigkeit bewut werden.
Fridolin war bla geworden.
Berichte genau, forderte er kurz.
Sibylle erzhlte ihm alles. Wie sie fliegen gelernt hatte, wie sie es pltzlich nicht mehr konnte und weshalb. Wie sie es dann wieder konnte, als sie ber Gauni und seine Eltern so wtend geworden war. Und dann von ihrem Flug ber den kahlen Berg, auf dem die brodelnden Baumstmpfe standen. Und wie sie dort beinahe abgestrzt wre, als sie ihren Kuckuck retten wollte, wobei es ihr so schlecht geworden war.
Die Giftgase, sagte Fridolin.
Und er? Sibylles Stimme klang sehr heiser.
Er heit Elmorck, antwortete Fridolin ganz leise, und er ist mein Bruder und Gefhrte seit immer.
Entgeistert sah Sibylle ihren alten Freund an. Dein Bruder ..., stammelte sie, wie kann er dein Bruder sein, er sieht so anders aus als du ...
Er sieht nicht nur anders aus, er i s t anders. Er hat, und ich liebe. Er whlt im Schlamm, und ich singe. Er will den Tod, ich will das Leben. Er hat bergroe, sehende Augen, und ich bin blind.
Hast du ihn gern ?
Ich liebe ihn, gestand Fridolin. Trotz allem. Wir gehren zusammen, und niemand vermag uns zu trennen.
Erzhl mir bitte von ihm. Vielleicht kann ich ihn auch gern haben, weil er dein Bruder ist.
So begann Fridolin, der blinde Knstler, zu sprechen. Er berichtete Sibylle von den kleinen Vulkanen und von den Unterirdischen, die Elmorck aus ihrer Welt hinausgefeuert hatten, die aber jetzt, ohne da Elmorck etwas davon ahnte, den Schlamm, der aus der Erde quoll, mit wunderbaren Stoffen anreicherten und ihm Krfte verliehen, die niemand kannte.
Er erzhlte Sibylle von jenem Gleiten wie auf Klngen, unter denen er immer tiefer geschwebt war, bis er sich pltzlich neben Elmorck befunden hatte.
Dann schilderte er Sibylle ihr gemeinsames Leben. Er sang ihr das Lied des Windes vor, wenn er durch die hohen Tannen rauscht, und erwhnte auch die Vgel, die in die Vulkane fielen, und wie er ihnen das Leben wiedergab.
Den Gnom Elmorck beschrieb er, wie er unruhig und bsartig zwischen seinen Vulkanen hin und her lief, immer eifrig bemht, sie am Brodeln zu halten. Auch die guten Abende verga Fridolin nicht, wenn sie beide vor der Htte saen und wenn der weiche Klang der Drehorgel Elmorcks Boshaftigkeit in Gte verwandelte. Sibylle, fragte Fridolin pltzlich, hrst du mir zu, Sibylle?
Das Mdchen neben ihm gab keine Antwort.
Die alte Drehorgel, Sibylle, weit du ? fuhr der Alte eindringlich fort, die Drehorgel, deren Pfeifen den gleichen Klang haben wie dein tnerner Kuckuck ...
Sibylles Blick kam wie von weither zu ihm zurck. Sie sagte heiser und hastig: Er ruft immer noch im hohen Schlot, der Kuckuck aus Ton, hr, hr! Und er sucht immer noch nach ihm und kann ihn nicht finden, er whlt mit den Hnden danach, bis an die Ellbogen steckt er sie in den Krater ...
Was sagst du da ? rief Fridolin entsetzt.
La ihn doch rufen, Elmorck! schrie Sibylle jetzt, ihre Stimme berschlug sich, la ihn doch rufen, dann hrt man wenigstens etwas auf diesem verfluchten, kahlen Berg! La ihn rufen!
Sibylle!
Fridolin legte seine Lippen ganz nahe an Sibylles Ohr. Komm doch zu dir. Sibylle! Wir sind ja nicht auf dem Berg der Schlammvulkane, wir sitzen am Flu unter einem Erlenbusch. Komm zu dir!
Komm zu mir, Sibylle! sagte Elmorck, zog seine ber und ber verschlammten Hnde aus dem Krater, spreizte die Finger und trat dicht an das Mdchen heran, komm zu mir! Wir sind auf dem Berg der Schlammvulkane, du bist hier oben bei mir, du sitzt nicht mehr unter dem Erlenbusch am Flu ...
Ja, sagte Sibylle, und ihre Augen wanderten entsetzt von Fridolin zu Elmorck und von Elmorck zu Fridolin. Ich glaube, ich bin hier, bei dir, und bei dir, und auch dort ...
Bei mir bist du, sagten Elmorck und Fridolin gleichzeitig, der eine auf der Bergkuppe der Schlammvulkane, der andere unten am Flu.
Fridolin hat mir von dir erzhlt, flsterte Sibylle, und wenn er mir etwas erzhlt, dann bin ich dort; ja, ich bin bei dir, Elmorck.
Ihr magerer Krper wurde schlaff. Fridolin hielt das Kind im Arm, streichelte es. Er wute: in diesem Augenblick war Elmorck strker als er. Sibylle hatte sich innerlich an den Ort seiner Erzhlung versetzt. Noch einmal versuchte er, Sibylle zurckzurufen: Komm zu dir, Kind! Komm zurck an den Flu!
Es gelang ihm nicht. Ihr ganzes Denken gehrte jetzt dem Unterirdischen. Sibylles Augen glitten hin und her. Sie sahen nicht, was am Flu geschah, sie folgten den neckischen Sprngen des Gnoms, der wie von Sinnen vor ihr umhertanzte, der sie auslachte, der sich ihr nherte, ihr sagte:
Du bist bei mir, und du mut jetzt immer bei mir bleiben. Ich bin ganz einsam, seit die Menschen mir meinen Bruder geraubt haben. Du bleibst bei mir!
Ich bleibe bei dir, sagte Fridolin ihr ins Ohr und versuchte verzweifelt, sie zu erreichen, und ich werde so lange bei dir bleiben, bis Elmorck dich wieder freigibt.
Wie eine Antwort klang es, als Elmorck drohte:
Solange mein Bruder Fridolin nicht wiederkommt, gebe ich dich nicht frei.
Solange mein Bruder Elmorck dich nicht freigibt, versprach Fridolin dem Kind in seinen Armen, werde ich dich beschtzen.
Ja, hauchte Sibylle und wute nicht, welchem der beiden Brder sie diese Antwort gab. Willenlos lie sie sich von Elmorck in die Blockhtte fhren.
In demselben Augenblick nahm Fridolin sie bei der Hand, richtete sie sanft auf und fhrte sie wie eine mechanische Puppe zu seiner Werkstatt. Er wute genau, da Elmorck ihren Geist gefangengenommen hatte und ihn als Geisel behalten wrde und da er, Fridolin, nur einen kleinen, schmalen, willenlosen, zitternden Krper in sein Atelier brachte.
Elmorck legte Sibylle schwere Fesseln um die Handgelenke. Damit du mir nicht wieder davonfliegst, wie neulich, hhnte er. Frei wirst du nur, wenn du aus eigener Entscheidung bei mir bleibst und mir dienst, wie Fridolin mir gedient hat.
Sibylle gab keine Antwort.
In diesem Augenblick beobachtete Fridolin, da Sibylle sich so mhevoll bewegte, als hingen Bleigewichte an ihren Hnden und Fen. Was tut er dir an, Sibylle ? rief er verzweifelt.
Sibylle schwieg.
Sie konzentrierte sich auf Elmorck. Immer wieder sah sie ihn genau an und suchte in seinen faltigen Zgen nach hnlichkeiten mit dem blinden Fridolin, den sie beide liebten, sowohl sie als auch Elmorck. Aber sie nahm weiter nichts wahr als eine verzerrte Fratze, ber und ber von Schlammspritzern besudelt. Nur, da er diese wundervollen Augen hatte ... Aber was nutzten sie ihm, was nutzten sie ihr ?
Sie dachte an die trben Augen ihres Freundes Fridolin, ber denen die Lider immer halb geschlossen waren, und wieviel wute er dennoch von den Dingen und vom Leben, trotz seiner Blindheit! Oder wute er so viel, weil er blind war ? Sie versuchte, sich Fridolin so zu vergegenwrtigen, da sie sich Elmorck entwinden konnte. In Abstnden hrte sie die vertraute Stimme Frido-lins ihren Namen rufen.
Aber sie konnte Elmorck nicht entrinnen. Er hatte volle Gewalt ber sie.
Und jetzt kommt das Allerschnste! schrie Elmorck begeistert und rieb sich die Hnde. Jetzt lasse ich den Schlamm los! Ich lasse ihn auf die Stadt los. Auf deine Stadt, Sibylle! Auf alle Huser, auf alle Menschen. Alles wird unter der tdlichen Flut begraben werden, wird unter ihr ersticken. Auch Fridolin, weil er nicht mehr zurckkommen will. Aber ich brauche ihn auch gar nicht mehr. Jetzt habe ich dich. Du bist schner als er, und jnger bist du. Du hast noch gute Augen. Du sollst mir helfen, die Vulkane zu schren. Du wirst es lernen. Du wirst mir auch schne Lieder vorsingen, wenn wir stille, laue Sommerabende haben. Ich brauche Fridolin nicht mehr. Ich habe dich. Komm, la dich streicheln.
Er kam mit gespreizten Fingern auf Sibylle zu, an den Fingern hing Schlamm. Die rmel schlugen, zu schweren Klumpen verklebt, um seine Handgelenke. Ein bler Geruch ging von ihm aus.
Sibylle sah entsetzt, wie die Finger ihr immer nher kamen, wie sie sich bewegten, gierig nach der Berhrung ihres weichen Kindergesichts. Sie schrie gellend auf. Elmorck erschrak und beugte sich zurck. Fridolin erschrak und beugte sich ber Sibylle. Gut, sagte der Gnom, du wirst dich an mich gewhnen. Du wirst mich lieben lernen, sobald in der Stadt unten alles tot ist und du auer mir keinen Menschen mehr hast.
Bitte ..., brachte Sibylle mhsam hervor. Ja? Elmorck war voller Bereitwilligkeit, in der Hoffnung darauf, Sibylle zu besitzen.
Bitte, ich bitte dich, Elmorck, verschone die Stadt.
Mchtest du das ? Elmorck kauerte sich grinsend neben das Mdchen auf die bloe Erde. Ja, antwortete Sibylle, es klang wie ein Hauch. Nach langem berlegen sagte Elmorck:
Ich werde die Stadt verschonen, weil du es dir wnschst. Aber du mut etwas dafr tun.
Gern! rief Sibylle, alles, was ich nur kann! Sag schnell, was ich tun soll!
Elmorck richtete den Blick seiner blassen Augen auf sie. Es wurde ihr darunter so schwer, als lge sie unter einem Stein. Elmorck dachte, da er vielleicht ihre Zuneigung gewinnen knne, wenn er sie entscheiden liee. Er sagte:
Ich will dir jetzt die Fesseln abnehmen. Du sollst selbst und ungezwungen entscheiden, ob du bei mir bleibst oder ob du zurckgehen willst. Whrend er sprach, lste er die Ketten. Bleibst du bei mir, so will ich die Stadt verschonen. Gehst du fort, dann wehe dir, wehe Fridolin, wehe euch allen!
Elmorck hatte sehr ernst und unmiverstndlich gesprochen. Sibylle dachte nach. Elmorck wiederholte seine Forderung:
Wenn ich die Stadt verschonen soll, mut du freiwillig bei mir bleiben. Es soll dir gut gehen, Sibylle. Bitte, bleib. Sibylle weinte.
Ich wei nicht, ob ich kann, sagte sie. Kannst du nicht, so wirst du allein schuld sein am Tod aller. Deiner Eltern, deiner Freunde, deiner Nachbarn, aller. Elmorck lchelte.
Sibylle rieb sich die Gelenke, die schweren Fesseln hatten hart gedrckt. Jetzt war sie frei, und doch weit weniger frei als vorhin, wo sie die Ketten noch hatte.
Pltzlich, ganz unerwartet kam es ber sie, da ihr alles einerlei war, da sie nichts anderes war als ein kleines Kind, jeder Zweifel, alle berlegung war dahin, und sie tobte los: Du bist ja bld! rief sie, als htte sie Geini oder Gauni vor sich, und sie htten einen Streit, natrlich will ich nach Hause! Wie kannst du von mir verlangen, da ich bei dir bleibe? Ich will nach Hause, ich will nach Hause! Fertig!
Elmorck lchelte.
Der tnerne Kuckuck rief immer noch aus dem wild brodelnden Vulkan.
Sibylle sthnte so laut, da es Fridolin durch Mark und Bein ging. Er tastete sich zu seiner Drehorgel, hing sie sich um und begann zu spielen. Ihr Klang erreichte Sibylles Bewutsein.
Die Drehorgel! rief sie selig, ich mu zu ihm! Zu Fridolin! Ich mu nach Hause, du Scheusal! Ich gehre zu dem, der singt, nicht zu einem, der im Dreck whlt!
Denk an die Stadt, Sibylle, sagte Elmorck kalt.
Ich denke an gar nichts mehr, ich will nach Hause!
Sie sprang aus dem Gras auf, und es kam ber sie wie dann, wenn Geinis Hunde sie hetzten. Sie wute nicht, ob sie flog oder ob sie nur ganz einfach pltzlich wieder da war. Sie warf sich Fridolin in die Arme und schrie:
Du bist gut! Du bist gut!
Mit behutsamen Hnden wischte Fridolin ihr die Kleider ab. Hat er mit Schlamm nach dir geworfen, als du ihm davonflogst? fragte er ruhig. Und du hinkst, Sibylle, wo ist denn dein linker Schuh? La das, vielleicht noch oben, Sibylle keuchte, er will die Stadt vernichten! Was lag daran, ob ihre Kleider sauber oder schmutzig waren, ob sie einen oder zwei Schuhe anhatte ? Er wird sie aber schonen, wenn ich zu ihm zurckgehe. Wenn du es willst, Fridolin, dann gehe ich zu ihm zurck.
Man darf sich keiner Macht beugen, wenn sie im Unrecht ist, sagte Fridolin. Komm, ich bringe dich zu deinen Eltern.
14. KAPITEL
Vom Schlamm, der ber die Stadt kam
Von da an stand Fridolin Tag und Nacht am Fluufer neben dem Wohnhaus, in dem Geini, Gauni und Sibylle daheim waren. Neben ihm harrte Pipa Rupa aus, die Gromutter Geinis. Ob Pipa Rupa und Fridolin einander aus frheren Zeiten kannten oder ob sie nur in den letzten Tagen zueinander gefunden hatten, wute niemand zu sagen.
Was der Stadt und ihren Einwohnern drohte, erkannte auer Sibylle und Fridolin vielleicht nur noch Geinis Gromutter. Sonst niemand. Das Leben der Stadt und der Menschen lief seinen gewohnten Gang, und es gab kein einziges Anzeichen dafr, da von irgendwoher eine Katastrophe im Anzug war.
Geini fischte ahnungslos wie bisher im klaren Wasser des Flusses. Er wute nicht, da der trbe, dicke Schlamm bereits unterwegs war, da er sich den Berg herabwlzte gleich einer todbringenden, alles erstickenden grauen Lawine, da er binnen weniger Tage die Stadt erreicht haben wrde, sich ber die Ufer ergieen und alles Leben unter sich begraben wrde. Und in dem Augenblick, in dem das Unglck ber die Stadt hereinbrechen wird, in dem das klare Wasser des Flusses vom kalten Schlamm verdrngt sein wird, in dem alle Fische ersticken werden, in diesem Augenblick wird weder Geini noch jemand anders ahnen, da das Unglck durch Sibylles Weigerung kam, bei Elmorck zu bleiben.
Gauni und seine Eltern zeigten sich nicht. Sie waren verschwunden seit dem Abend, an dem sie Sibylle auf brutale Weise das Geheimnis des Flie-gens entreien wollten und als Sibylle ihnen wie ein wilder kleiner Zugvogel entschlpft war. Hielten sie sich aus Scham verborgen oder aus Wut? Oder waren sie nur auswrts beschftigt und hatten den Zwischenfall vergessen ?
Sie hatten den Zwischenfall nicht vergessen. Sie saen beieinander, aen nicht, tranken nicht, schliefen nicht. Sie berieten, wie sie Sibylle auf ihre Seite hinberziehen, zu einer der Ihren machen konnten.
Fliegen: das wollten die Fanglingers knnen, um auf leichte Weise zu groem Besitz zu gelangen.
Nur wuten die Fanglingers nicht, da man nur fliegen kann, wenn man frei ist von aller Habgier.
Htten sie es auch gewut: Sie htten es nicht verstanden.
Und dann kam eines Nachts der blauschwarze Schlamm.
Er wlzte sich im Flubett heran, trge, unaufhrlich.
Die Fische flohen als silberne Masse vor ihm fluabwrts; Vgel, die ihren gewohnten Weg ber den Flu nahmen, fielen tdlich vergiftet in den dunklen Brei, der stndig hher stieg. Von Minute zu Minute wuchs die Gefahr. Der Schlamm fllte bald das ganze Flubett, kroch stellenweise stinkend und eklig ber die Ufer, ergo sich in manche Keller. In tiefer gelegenen Straen brachte er den Verkehr zum Stocken.
Viele Leute wurden krank von den ausstrmenden Gasen, manche erblindeten.
Fridolin stand schweigend am Ufer und dachte nach.
Neben ihm stand Pipa Rupa wie ein steinernes Standbild.
Das Grauen, die Angst der Menschen wurden beinahe unertrglich.
Von Panik gejagt, rannten sie umher, suchten sich in Sicherheit zu bringen, berieten sich, ohne einen Ausweg finden zu knnen. In den Zeitungen gab es jeden Tag neue Alarmmeldungen zu lesen. Es kamen Fotografen, stellten ihre altmodischen Apparate auf Dreife, legten die mit Bromsilber bestrichenen Glasplatten hinein, krochen unter ihr schwarzes Tuch und versuchten, die Katastrophe fr die Nachwelt festzuhalten. Viele Menschen verlieen die Stadt.
Nach drei Tagen sprach Fridolin zum erstenmal. Er bat Sibylle, den Leuten, die die Flucht ergreifen wollten, eine Botschaft zu berbringen. Die Botschaft lautete:
Beugt euch der Gefahr nicht, trachtet, sie zu berwinden. Bleibt hier und helft retten. Bald ist es soweit.
Sibylle hatte ihnen dies nur zu sagen. Zurckhalten mute sie keinen, es wre ihr auch nicht mglich gewesen.
Nachher stand Fridolin wieder mehrere Tage und Nchte reglos da, als sei er zu einem alten, knorrigen Baum geworden, der seine Wurzeln im Fluufer verankert hat. Pipa Rupa lie ihn keinen Augenblick allein. Sie schwiegen die ganze Zeit.
Manchmal gesellte sich Sibylle zu ihren beiden alten Freunden, aber es wurde ihr derart bel beim Anblick und Geruch des Schlamms, der Tag und Nacht unter ihrer Weide vorberflo, da Pipa Rupa sie ins Haus schickte.
Schlielich war es soweit, da das ganze Flubett bis an den Rand mit Elmorcks Schlamm gefllt war. Die Gefahr war gro, da er auch hier beim neuen Wohnhaus ber die Ufer treten wrde. Es ist Zeit, sagte Fridolin unvermittelt. Wir mssen handeln.
Nachher wirst du wohl zurckgehen, lautete Pipa Rupas Antwort. Daraus knnte man entnehmen, da sie etwas von Fridolins Herkunft wute.
Ja, ich werde zurckgehen, erwiderte Fridolin. Nachher schon. Zuerst aber haben wir hier zu tun. In seine Augen kam ein Glanz; berhaupt schien es, als lge seit einigen Tagen ein hellvioletter Hauch ber ihnen, als hielte er die Lider nicht mehr nur geschlossen.
Dann wollen wir also beginnen, lchelte Pipa Rupa und rief Geini herbei: Ab heute stehst du Fridolin zur Verfgung, befahl sie. Wenn Gromutter in dieser Weise sprach, gab es keinen Widerspruch.
Geini war obendrein froh, endlich etwas zu tun zu bekommen, da beim heutigen Stand der Dinge an Fischen nicht zu denken war und auerdem Gauni sich pltzlich nicht mehr blicken lie.
Fridolin schickte den Jungen mit einer Nachricht zur Kunstakademie: Alle Schler sollten sich am Fluufer einfinden, mit ihrem gesamten Modelliergert ausgerstet. Die Stadtvter wurden ersucht, die Jahrmarktbuden am Fluufer aufstellen zu lassen; einige sollten Unterstnde fr Schlechtwetter werden, in anderen sollten E-waren angeboten werden.
Pipa Rupa schrzte sich und stieg langsam, beinahe andchtig in den Schlamm. Mit zrtlicher Bewegung nahm sie eine Handvoll davon heraus, knetete ihn. Dabei berflog ein Lcheln ihre runzligen Zge.
Er ist sehr gut, sagte sie zu Fridolin, er ist ausgezeichnet. Arme voll holte sie heraus, baute am Ufer mit einer Geschicklichkeit sondergleichen einen niedrigen Ofen, wie Tpfer ihn haben. In einigen Tagen wird er verwendbar sein. Dann werden wir alles brennen knnen, was an Bildwerken hier entstehen wird.
Versonnen begann Fridolin zu arbeiten. Whrend er sich den grauen Ton mit langem Kneten gefgig machte, stand vor seinen inneren Augen der schwarze, vertraute Tannenwald, der die Blockhtte und die Kuppe der Schlammvulkane umgab; er sah den Gnom Elmorck kichernd, eifrig, von Kopf bis Fu von Schlamm bespritzt, zwischen den Kratern einherhpfen.
Wieder erkannte Fridolin, was sie beide unterschied :
Elmorck hate, er selbst liebte. Elmorck wollte den Tod, er das Leben. Elmorck whlte im Schlamm, Fridolin formte daraus herrliche Bildwerke, trotz seiner blinden Augen, mit Hilfe der tastenden Finger.
Dennoch, dies erkannte Fridolin ebenfalls, dennoch gehrten sie beide zusammen. Eins waren sie und reichten durch Elmorck bis in die Tiefen der Unterwelt und durch Fridolin bis ber die Sterne.
Mit diesen Gedanken begann er zu modellieren. Unter seinen geschickten Hnden nahm der unfrmige Krper seines Bruders immer wieder neu Gestalt an. Er lie ihn sitzen, in den Vulkanen rhren, stellte ihm auch einige Krater hin," hohe Schlote, breite, niedrige Pfannen. Er legte ihn wie nach einem Ausrutscher in den Schlamm, halb darin versunken, mit Armen und Beinen zappelnd, lachend, froh. Er formte ihn schlafend, dann wieder in zorniger Haltung und auch glcklich, wie er den Klngen der Drehorgel lauschte, oder genieerisch futternd mit einer halben Rehkeule zwischen den Zhnen.
Fridolin merkte nicht, da die Schler sich ver.-sammelt hatten, um ihn herumstanden, ihm bewundernd und befremdet zugleich zusahen. Er wute nicht, da in seine toten Augen ein Leuchten gekommen war, das whrend der Arbeit immer tiefer aufglhte, einen violetten Schimmer ausstrahlte.
Als die Sterne am Himmel erschienen, war er fertig. Das Ufer war mit den verschiedensten Abbildungen des Gnoms Elmorck berst.
Von irgendwoher hrte man die Drehorgel. Einer der Schler hatte sie aus Fridolins Atelier mitgebracht und lie sie erklingen.
Fridolin stand am Ufer neben einem der Bildnisse Elmorcks. Sein Gesicht drckte Sehnsucht aus, seine Augen nahmen die Sterne wahr. Er fhlte sich glcklich. Er sah.
Am nchsten Tag erschien Sibylle, ausgeruht, frisch wie der Morgen. Da erblickte sie die Abbilder Elmorcks.
Warum hast du ihn hergebracht! schrie sie los. Schaff ihn fort, Fridolin, schaff ihn fort! Sie hielt sich beide Augen mit den Fusten zu.
Fridolin lste zart ihr verkrampften Hnde. Man mu der Gefahr ins Auge sehen, dann kann man ihr leichter begegnen, sagte er zu ihr. Schau dir Elmorck an, Sibylle. So, wie du ihn hier hast, kann er dir nichts anhaben. Du wirst merken, da du nach einer Weile anders ber ihn denkst.
Nachgebend setzte sich Sibylle zu den kleinen Vulkanen neben eine der freundlichen Abbildungen des Gnoms. Sie betrachtete sie lange. Es vergingen Stunden. Langsam fhlte sie, wie ihre Angst wich, immer mehr dem Mitleid Platz machte.
Von Zeit zu Zeit hob sie die Augen und beobachtete, was die anderen taten.
Da standen Schler in Gruppen beisammen und besprachen eine Arbeit. Andere modellierten bereits schweigsam und hingegeben, einige kneteten den Ton, um ihn so geschmeidig wie mglich zu machen.
Auch Fridolin arbeitete. Unter seinen Hnden wuchs eine schlanke, hohe Sule empor, seine Augen ffneten sich weiter und weiter, je hher sie wurde. Wunderbare Ranken schlangen sich an ihr in die Hhe, seltsame Gestalten belebten sie.
Da der Abend kam und die Nacht, da er allein am Fluufer zurckblieb, wurde ihm nicht bewut. Da tags darauf seine Freunde und die Schler kamen und gingen, sah er nicht. Er arbeitete ohne Unterbrechung.
Nach einigen Tagen hatte die Sule eine unvorstellbare Hhe erreicht. Niemand wute, wie Fridolin es berhaupt zuwege brachte, ohne Gerst in einer solchen schwindelnden Hhe zu arbeiten. Sibylle allein ahnte, da er, der Wissende, der Denkende, genau wie sie fliegen konnte: besser, leichter, hher als sie.
Die Sule strebte tglich der Vollendung zu und war doch nie vollendet. Schlank wuchs sie aus dem Erdreich heraus, wurde langsam breiter, schnrte sich wieder zusammen, atmete gleichsam ein und wieder aus.
Endlich wurde Fridolin von ihr entlassen, sank am Ufer nieder. Seine Schler, Sibylle, Pipa Rupa und sehr viele Kinder der Kleinen Stadt standen wortlos um die Sule herum, eingefangen vom Zauber, der von ihr ausging, der die Zeit vergessen lie.
Da trat Pipa Rupa zur Sule. Alle anderen wichen zurck; etwas ging von ihr aus, das jeden in seinen Bann schlug.
ber das alte Gesicht Pipa Rupas lief es wie ein flackerndes Feuer, drckte Sehnsucht aus, wechselte in Verlangen, wurde zur Enttuschung, Bitte, Erfllung, Glckseligkeit. Eine Musik, von der niemand wute, woher sie kam, umgab die Sule, lie Pipa Rupas Krper ins Beben geraten. Ob die dumpfen Klnge auch Worte enthielten oder nicht keiner konnte das sagen.
Pltzlich warf Pipa Rupa die Arme hoch, stie einen lauten, befreiten Schrei aus. Die Formen der Sule kamen auf sie zu, die Ausbuchtungen drngten sie zurck, die Einschnrungen zogen sie wieder herbei. Das Rankenwerk der Sule umgarnte sie, entlie sie wieder. Laut atmete sie ein und aus. Ein und aus. Ihre Fe hoben sich in Sten als stnde sie auf heien Kohlen, und pltzlich wurde sie um sich selbst gewirbelt, rankte sich an der Sule empor, glitt wieder herab.
Mit geschlossenen Augen, den Kopf zurckgeworfen, gab Pipa Rupa sich einem Tanz hin, der sie durch die Tnze aller Vlker, aller Zeiten fhrte.
Bis sie, ausgestreckt, bis zur letzten Hhe der Sule reichte, dann langsam wieder in sich zusammensank. Ein Ausdruck von Schmerz legte sich ber die Verklrung ihres Gesichts. Die gleitenden Gesten ihrer Arme gingen in eckige Zuckungen ber, der gequlte Ausdruck wurde unertrglich. Dann war es so, als knnten ihre Fe sich nicht mehr vom Boden lsen, als seien sie mit wirren Wurzeln im Erdreich verstrickt. Pipa Rupa sank zu Boden. Um sie herum herrschte Schweigen. Alle waren im Banne ihres Tanzes, der einer lodernden Flamme geglichen hatte.
Pipa Rupa erhob sich erst, als Fridolins Schler einer nach dem anderen nachdenklich wieder an ihre Arbeit gegangen waren, als die Kinder umherzuschwirren begannen und immer lauter und unbekmmerter rufend und schreiend unter Fridolins Leitung ihre kleinen Spielsachen formten.
15. KAPITEL
Vom Aufblhen der Kleinen Stadt
Die Nachricht von der ganz besonders guten Zusammensetzung des Schlamms, der im alten Flubett der Kleinen Stadt trge dahinflo, hatte sich im ganzen Land herumgesprochen. Von weither kamen Tpfermeister, schlugen fluabwrts von der Arbeitsstelle der Bildhauer ihr Lager auf und lieen die Tpferscheibe schnurren. Unter ihren Hnden hoben sich aus den unfrmigen Tonklumpen langsam die wundersamen Formen der Krge, als wchsen sie aus der Kraft ihres eigenen Lebens. Als formten die feingliedrigen Finger der Tpfer etwas, das nicht mehr von ihnen abhing.
Ziegelbrenner kamen auf Pferdewagen, stiegen in den Schlamm und befhlten ihn. Beim ersten Kneten bereits erkannten sie ihn als erstklassiges Baumaterial. Also war es kein Wunder, da in krzester Zeit am anderen Fluufer riesige Ziegelbrennereien entstanden. Zahllose Arbeiter liefen umher, Fabrikherren leiteten die Arbeit an, erteilten mit lauter Stimme Befehle. Straen wurden angelegt, auf denen bald lange Kolonnen von Pferdewagen heranfuhren, um Ziegel aufzuladen. Im ganzen Land entstanden neue Huser.
Bald waren auch die Doktoren und Apotheker zur Stelle. Mit Reagenzrhrchen und Bunsenbrennern ausgestattet, untersuchten sie den Schlamm, stellten fest, da er sich zu Heilzwecken eignete. Man baute am Flu Sanatorien und Bder fr Rheumakranke, man behandelte Knochenbrche, Rachitis, die damals so weit verbreitete Migrne.
Daraufhin liefen auch ganze Scharen von Chemikern herbei. Ob der Schlamm nicht etwa auch edle Metalle enthielte, ob er nicht reich sei an heilenden Bestandteilen, ob die von ihm ausstrmenden Gase nicht zu verwenden seien.
Alles fand man ihn ihm: Zinn, Gold, Silber, Blei, Grundbestandteile fr wichtige Medikamente, brennbares Gas, das man in Rohren in die Wohnungen leitete. Als dies geschehen war, wute Fri-dolin, da niemand mehr erblinden wrde, wie es ihm zugestoen war.
Whrend so die Kleine Stadt, ja das ganze Land aufblhte, rannte der Gnom Elmorck auf der Kuppe der Schlammvulkane haerfllt hin und her, von Krater zu Krater, whlte und stocherte in allen und war berzeugt, da es nicht mehr lange dauern drfte, bis alles Leben in der Kleinen Stadt erstickt sei. Doch dort war lngst aus Verzweiflung Hoffnung, aus Angst Tatkraft, aus Entsetzen Dankbarkeit geworden. Fridolins Standhaftigkeit hatte den Menschen das Vertrauen zurckgegeben, das ein jeder braucht, wenn die eigenen Krfte zu klein sind.
Schau, Sibylle, sagte Fridolin eines Tages, schau, wie die Menschen alle Furcht abgeworfen haben und wie sie sich das, was ihnen bisher Todesangst einflte, unterwerfen. Jetzt sind sie frhlieh, weil sie gelernt haben, mit ihrer Lage fertigzuwerden, ihr das' Beste abzugewinnen. Elmorck kann ruhig noch jahrhundertelang seinen Schlamm zur Stadt hinunterschicken, die Leute werden ihn zu verwenden wissen. Er beugte sich zu Sibylle hinunter und kte sie. Leb wohl, mein Kind, sagte er. Seine Augen leuchteten gro und sehend auf.
Sibylle lie seine Hand nicht los: Fridolin, Fridolin, was tust du, gehst du fort? Bleib doch bei mir, Fridolin!
Meine Aufgabe ist zu Ende, antwortete der alte Mann. Ich mu gehen, ich mu dorthin gehen, wo ich daheim bin.
Zu Elmorck ...
Ja, zu Elmorck, auf die Kuppe der kleinen Vulkane.
Gerade jetzt, wo du alles haben knntest, Fridolin? Ehre, Reichtum, Berhmtheit ...
Das ist nicht meine Welt. Ich mu in meiner einsamen Blockhtte wohnen, mu von der Arbeit meiner Hnde leben, mu Stille um mich haben. Halte mich nicht zurck, Sibylle. Leb wohl.
Er schulterte seine kleine Drehorgel und ging langsam davon.
Auer Sibylle sah ihm niemand nach.
Und sie wagte auch nicht, ihm nachzulaufen. Sie sah ihm so lange nach, bis er zwischen den letzten Husern der Kleinen Stadt nicht mehr zu erkennen war.
III. TEIL
l. KAPITEL
Was wir zu guter Letzt noch ber Sibylle erfahren
Sibylles Vater hatte seine eigene Tochter mit einem unbekannten Flugwesen verwechselt, hatte einen aufregenden S Bericht darber ans Ministerium geschickt, hatte die ganze Zeit daran geglaubt, da er der erste Sterbliche war, der ein Lebewesen von einem fremden Stern gesichtet hatte.
Es verging ein volles Jahr, und nichts geschah. Auer da die Kleine Stadt aufblhte, da alle Leute froh waren ber den Schlamm, weil er ihnen so vielfltige Verdienstmglichkeiten brachte.
Dem alten Flu hatte man ein neues Bett gegraben, hatte neue Quellen herbeigeleitet und die Stadt mit Trinkwasser versorgt.
Eine nie gekannte Heiterkeit hatte sich unter den Leuten verbreitet; alle waren freundlich zueinander, solange der Wohlstand erst im Anwachsen begriffen war.
Von diesen Dingen wute Sibylles Vater nicht viel. Seine Gedanken kreisten auf ihren eigenen elliptischen Bahnen um die Himmelskrper, um das neuentdeckte Sternchen mit zappelnden Kinderbeinen.
Endlich aber kam die Antwort doch noch vom Ministerium. Man bot Sibylles Vater eine bedeutende Stelle am grten Planetarium des Landes an. Hatte der Mann, der das erste lebende Wesen im All entdeckt hatte, nicht auch ein Anrecht darauf?
So zogen also Sibylles Eltern aus ihrer weien Wohnung am Fluufer aus. Sie lieen alles so zurck, wie sie es fr sich selbst wohnlich gemacht hatten, nahmen nur das Allerntigste in drei Handkfferch'en mit. Ohne Abschied zu nehmen, verlieen sie das Haus. Nicht, weil sie etwa mit den Nachbarn verstritten gewesen wren, ihnen schienen nur Entfernungen nicht wichtig zu sein.
Als Sibylles Eltern, das Mdchen in ihrer Mitte, um Mitternacht davongingen, herrschte vollkommene Ruhe ringsum.
Im Barackenlager am Fluufer lagen die Bildhauer, Fridolins Schler, entweder mde im Schlaf oder dachten ber neue Bildwerke nach, die in den nchsten Tagen unter ihren formenden Hnden Gestalt annehmen sollten.
Die Chemiker und Doktoren schlugen sich noch im Traum mit neuentdeckten Formeln oder der Frage herum, wie der wunderttige Schlamm am besten anzuwenden sei.
Die fleiigen Ziegelbrenner schlummerten mde und traumlos dem nchsten Arbeitstag entgegen, whrend die Besitzer der groen Ziegelscheuern wohl noch ber ihren Bchern saen und ihr Einkommen berechneten, das von Tag zu Tag wuchs.
Von Familie Langfinger (o weh, nun habe ich sie bei ihrem wahren Namen genannt, wo sie sich bisher doch so sorgfltig unter dem Namen Fanglin-ger verborgen halten konnten!), Familie Fanglin-ger also, von der ist wenig zu berichten, haben sie sich doch seit der Niederlage durch Sibylle nicht mehr blicken lassen; einzig Gauni strich manchmal ums Haus herum, und immer fter sah man ihn mit zweien von Geinis Brdern tuscheln. Dann verschwand er wieder.
Sibylle berlegte, ob es ihr leid tat, von ihrem Freund Gauni nun so ohne Abschied davonzugehen. Sie versprte nicht das geringste Bedauern. Es konnte eher Erleichterung genannt werden, was sie bewegte, wenn sie an ihre Trennung von Gauni dachte.
Aus Geinis Wohnung schimmerte ein roter Schein von dem kleinen Kohlenfeuer, das Tag und Nacht in der Kche schwelte. Geini und seine Geschwister schliefen tief unter ihrem gemeinsamen Federbett im Hof, dicht an die Erde geschmiegt. Da Geini kurz nach ihr blinzelte, als sie an ihnen vorberging, schien ihr und ihm des Abschieds genug.
Nur die alte Pipa Rupa stand unter der knorrigen Weide, als Sibylle und ihre Eltern das Haus verlieen. Auf Pipa Rupas rechter Schulter sa der Halbmond.
Sibylles Vater verschluckte sich, als er das sah, sagte aber kein Wort, um sich nicht zu blamieren. Er war nmlich fest berzeugt, da er in der Aufregung seiner neuen Berufswrde und des bersiedeins bestimmt in einen Zustand hchster Erregung geraten war und es mit Hirngespinsten zu tun hatte. (Wodurch bewiesen wird, da ein Mensch, der unter Menschen lebt, sich auch um alles Lebendige um ihn herum kmmern sollte. Sicherlich htte ihm ein Nachdenken ber Pipa Rupa und ihre Sippe ebensoviel Staunenswertes eingebracht wie das Studium des Sternenhimmels;
vielleicht htte er dann auch Sibylles Kleider gekannt und nicht ausgerechnet seine eigene Tochter fr ein fliegendes Sternchen gehalten!)
Sibylles Mutter ging ganz in Gedanken versunken wortlos grend an Pipa Rupa vorbei.
Sibylle aber lief auf sie zu. Sie trug schwer an der Stange, auf der ihre drei Sterne saen. Pipa Rupa, bat sie, du weit, meine Sterne sind ohne Erlaubnis des Ministeriums aus einem dichten Sternhaufen herausgeklaubt worden, ich kann sie nicht zu der groen Sternwarte mitnehmen, sie mssen zurck. Wie mache ich das nur...
Mit einer leisen Handbewegung bedeutete Pipa Rupa dem Mond, der immer noch auf ihrer Schulter sa wie eine schnurrende Katze, sich der drei Sterne anzunehmen. Er stieg hoch, die Sterne schwebten hinter ihm drein, hher und noch hher. Sibylle bewunderte, wie sie sich ganz ohne Widerspruch an ihren alten, langweiligen Platz auf dem Himmelsgewlbe bringen lieen.
Dann sagte Sibylle: Pipa Rupa, ich kann wieder fliegen.
Pipa Rup lchelte, als sie antwortete: Ich wei es, Kind. Ich habe dich gesehen, als du frei wurdest. Dein Vater hat dich auch gesehen.
Sibylle wollte es nicht glauben. Er hat mir nichts davon gesagt, entgegnete sie.
Genug, da er darber einen wissenschaftlichen Bericht ans Ministerium verfat hat...
Ach, Pipa Rupa, jetzt lachte Sibylle silbern in die Nacht hinein, mein Vater hat doch ein lebendes Wesen aus dem All gesehen! Als erster! Darum hat man ihn ja auch zu der groen Sternwarte berufen, Pipa Rupa!
Das lebende Wesen aus dem All, Kind, das warst du! Dich hat er ins Objektiv bekommen! Jetzt war es an Pipa Rupa, zu lachen, und sie lachte so laut, da die Goldmnzen aus ihren Zpfen ganze Lieder klirrten.
Aber dann..., stammelte Sibylle, dann gehen wir ja aufgrund einer Lge zu der groen Sternwarte, dann... dann ist ja alles gar nicht wahr, dann darf mein Vater diese Stelle doch gar nicht annehmen...
Langer Weg im Gewitter. ber die Berge rollender Donner. Glcklich fand er den Bezirk seiner Trume. Schwarze Sonne aller Hoffnung..., raunte Pipa Rupa. Dein Vater hat nicht gelogen. Er hat sich nur geirrt, Sibylle. Aber er glaubt an seinen Irrtum, ein Lebewesen aus dem All entdeckt zu haben, und das ist das Wichtigste.